Dienstag, 23. Februar 2021

Selbstverteidigung top down oder bottom up - Teil II

Warum Frauen sich nicht (allein) auf Luisa verlassen sollten...


Ist Luisa hier? Es ist eine einfache Frage, die aber in einer schwierigen Situation helfen soll: Wenn Frauen sich beim Ausgehen sexuell belästigt fühlen. Ist Luisa hier?

Die Idee: Wenn eine Frau bedrängt wird, kann sie sich an die Mitarbeiter wenden und nach der imaginären Luisa fragen. Das Barpersonal soll dann helfen. Ein Taxi rufen, zum Beispiel. Oder an einem ruhigen Ort das weitere Vorgehen besprechen. Diese Idee ist zurückzuführen auf eine Kampagne des Frauennotrufs Münster, die Ende 2016 ins Leben gerufen wurde. Natürlich überlegte ich, ob ich das Luisa-Konzept in meine Eigenschutz-Kurse mit einbeziehen könnte. Ich entschied mich dagegen. Und dies aus folgenden Gründen: 

Die Methode ist für Frauen gedacht, die auf einer öffentlichen Party oder Disco, vielleicht auch beim Stadt-, Schützen- oder Betriebsfest belästigt werden. Dies ist meiner Meinung nach nur ein kleiner Bereich, in dem Frauen Schutz benötigen könnten - ich denke, es macht mehr Sinn, Lösungen anzubieten, die breiter, situationsübergreifend oder sogar grundsätzlich wirksam sind. 

Die Frau müsste in jedem Fall erst einmal die Gelegenheit bekommen, in die Nähe einer Theke zu gelangen, um das Barpersonal anzusprechen. Das wird vermutlich nicht immer möglich sein - vor allem nicht bei größeren Veranstaltungen oder wenn sich z. B. bei einem Stadtfest lange Schlangen an der Getränketheke gebildet haben.

Das Barpersonal muss geschult sein. Laut Seite des Frauennotrufs Münster sind bereits in zahlreichen Städten in Deutschland und auch in der Schweiz einige Lokale an der Aktion beteiligt. Aber was ist, wenn die Frau sich in einem anderen Lokal befindet oder z. B. auf einem Stadtfest? Bei der hohen Fluktuation des Personals im Gastgewerbe ist es vermutlich auch in den teilnehmenden Lokalen nicht immer möglich, ständig alle Personen über die Kampagne zu informieren. Schlimmstenfalls heißt es dann "Luisa? - Nee, kenn ich nicht." 

Oder die Bedienung hinter dem Tresen kennt die Kampagne, hat aber gerade drei Bestellungen zu erledigen und ist bemüht, den Überblick zu behalten - nicht immer kann dann sofort reagiert werden. Hat die Frau dann keine andere Möglichkeit erlernt, sich zu helfen, wäre das eine sehr unglückliche Situation. 

Ist zudem noch Alkohol im Spiel oder empfindet die Frau Angst, so kann dies Stress auslösen und die Abruffähigkeit vermindern, so dass der Frau vielleicht der Name Luisa nicht einfällt. 

Zudem haben ja inzwischen durch die groß angelegte Kampagne auch Männer von dem "Luisa-Code" gehört und das, was ja ursprünglich bezweckt worden war, nämlich, dass eine Frau unbemerkt und quasi auch in Gegenwart des Belästigers durch Nennung des "Codes" um Hilfe bitten kann, kann dann zumindest nicht mehr unbemerkt funktionieren. 

Ich denke daher, dass es sinnvoller ist, Frauen ein breiteres Repertoire für ihren Eigenschutz zur Verfügung zu stellen. Sie sollen in meinen Angeboten lernen,

- ihrer inneren Stimme zu folgen und ihrem Bauchgefühl zu vertrauen, wenn sie sich in Gegenwart eines Mannes (es kann natürlich auch eine Frau sein) nicht wohl fühlen 

- erwünschte Annäherung von Belästigung zu unterscheiden und ihre eigenen Grenzen zu definieren 

- die Fähigkeit zu entwickeln, sich abzugrenzen und in diesem Prozess kreativ zu sein 

- klar zu formulieren, was sie wollen und was sie nicht wollen

- ein sicheres Auftreten zu erlangen durch eine starke Stimme und eine selbstsichere Körperhaltung 

- einen Gefahrenradar zu entwickeln und zu wissen, in welchen Situationen sich welches Maß an Aufmerksamkeit empfiehlt 

- ihr Freizeitverhalten so zu gestalten und ggf. zu planen, dass sie sich weitgehend sicher fühlen (z. B. rechtzeitig zu überlegen, wie sie zu einer Party hinkommen und vor allem: nachts wieder zurück nach Hause)

- intuitive Selbstverteidigungs-Handlungen zu entwickeln

Die "Luisa-Kampagne" ist ganz unbestritten eine gute Gelegenheit, um auf den Umstand der sexuellen Belästigung im öffentlichen Raum aufmerksam zu machen - für den effektiven Eigenschutz ist sie m. E. aber nur sehr begrenzt einsetzbar. Es ist zudem ein "top down"-Konzept und damit sehr Kopf-gesteuert, da die Frauen in einer bestimmten, brenzligen Situation, die möglicherweise mit Angst und Stress behaftet ist, einen bestimmten Satz abrufen sollen. Aus meiner Sicht sollte Eigenschutz möglichst intuitiv und damit "bottom up" - als quasi "aus dem Bauch heraus" erfolgen. 

Ähnlich geht es mir mit dem Konzept aus Kinder-Kursen, bei dem ein "Passwort" zwischen Eltern und Kindern vereinbart werden soll, damit die Kinder nicht mit fremden Personen mitgehen. Die Personen sollten dann durch das Kind nach dem Passwort gefragt werden und nur wenn das richtige Passwort gesagt wird, geht das Kind mit. Ganz ehrlich? - Als Kind hätte ich in einer Situation, in der ich Angst habe, weil mich z. B. ein fremder Erwachsener anspricht, bestimmt nicht an so eine Frage gedacht! Und leider geschehen die meisten Übergriff auf Kinder nicht durch wildfremde Personen - sondern z. B. durch Verwandte, Lehrer*innen, Priester etc. Ich bezweifle, dass hier eine Passwort-Regel funktioniert. Es ist demnach wieder eine "top down"-Regel, die ich für unpraktisch halte. Meine Empfehlung: Das Kind geht grundsätzlich nicht mit fremden Personen mit. Sollte es Ausnahmen geben, müssen diese EINZELFÄLLE im Familienkontext vereinbart werden. 

Selbstverteidigung "top down" oder "bottom up"? - Teil I

In der Karateschule Fuji San Münster verfolgen wir ein ganzheitliches Eigenschutz-Konzept, das weit über die körperliche Selbstverteidigung hinaus geht. Wie es der Name der Schule vermuten lässt, liegt unser Ursprung im Karate. Karate ist eine asiatische Kampfkunst, die ihre Wurzeln in der Selbstverteidigung hat. Als Kampfkunst beinhaltet sie Basistechniken, Partner*innen-Training und Formenläufe (Kata). Dadurch unterscheidet sich Karate von Systemen, die ausschließlich den Verteidigungsaspekt fokussieren. Gelegentlich führt dies dazu, dass Karateka bei der Begegnung mit Personen, die in den Verteidigungssystemen zu Hause sind, belächelt werden, da unsere Techniken für die Verteidigung nicht wirklich tauglich seien. Von außen betrachtet mag dieser Eindruck nachvollziehbar sein. 

Im traditionellen Karatetraining liegt der Fokus zunächst auf dem Erlernen der Grundtechniken. Hier bietet Karate eine reiche Technikvielfalt an, die es ermöglicht, zu lernen, wie beinahe jeder Teil des Körpers im Verteidigungsfall als Waffe eingesetzt werden kann. Anschließend werden Grundtechniken in Kata (Formen) zusammengefügt, so dass eine Art Kampfkunst-Choreografie entsteht.  Das Partner*innen-Training ist anfangs stark stilisiert, so dass ein offenkundiger Bezug zur realen Selbstverteidigung schwerfallen mag. Die Kata können in einzelne Elemente zerlegt und zu für die Selbstverteidigung nützlichen Sequenzen zusammengefügt werden. Diese anwendungsorientierte Formen-Analyse steht bei Anhänger*innen von reinen Kampfsystemen gelegentlich in der Kritik: Es wird unterstellt, Karateka konstruierten sich die Realität passend zur festgelegten Abfolge der Form. Diese Vorgehensweise wäre dann komplett kopfgesteuert, also "top down" (von oben - vom Kopf - nach unten - in die Anwendung, in die Realität oder auch in die Intuition). Es ist tatsächlich ziemlich unwahrscheinlich, dass ein realer Angreifer einige Angriffstechniken so platziert, dass sie z. B. zu den (stilisierten) Techniken Nr. 1-5 aus der Kata Bassai Dai passen. Gleichwohl werden mögliche Bewegungsfolgen durch diese Trainingsform eingeübt, die es ermöglichen, in einer körperlichen Auseinandersetzung einen "Flow" zu entwickeln, der nicht nach einer Technik aufhört. Zweifellos darf das Einüben möglicher Abfolgen nicht dazu führen, dass ausschließlich bestimmte Techniksequenzen automatisiert werden und nichts anderes in Frage kommt! Dies würde genau das Gegenteil dessen auslösen, wofür meiner Meinung nach das aus den Kata generierte freiere Training gedacht ist - es würde Flexibilität einschränken, statt sie zu erweitern! 

Allerdings hat das Kampfkunst-Training noch einige andere Elemente, die einen möglichen top-down-Charakter ausgleichen oder zumindest ergänzen können. Viele Karate Dojos bieten zusätzlich zu ihren Karate-Trainings gesonderte Selbstverteidigungs-Trainings an. Leider haben diese dann meistens gar keinen Bezug zu dem Technik-Repertoire in den Karate-Stunden! Diese Diskrepanz tritt umso mehr auf, je mehr das Training in den Dojos auf das reine Absolvieren von Prüfungsprogrammen beschränkt ist. Darum ist es meiner Meinung nach wichtig, möglichst in jedem Training einen direkten Bezug zwischen der stilisierten Trainingsform und der Realität herzustellen. Ich persönlich achte regelmäßig darauf und setze ein hohes Augenmerk auf den Transfer zwischen Kampfkunst und Realität. Dies geschieht unter anderem auch durch Schlagkissentraining und Trainingselemente zur Abhärtung des Körpers, aber auch taktische Trainingselemente wie "niemals am Boden liegen bleiben", Flucht üben nach einer erfolgreichen Abwehr etc. Und ganz besonders üben wir, auf die Intuition zu achten - was wäre mein erster Impuls und warum? Wie schaffe ich es vielleicht, Angst in konstruktive Aggression umzuwandeln und eine Schreck-Starre zu verhindern? Trainingselemente wie diese sorgen dafür, dass das Training auch "bottom-up" funktioniert - also vom Bauchgefühl in die Technik. 

Als Fazit lässt sich aus meiner Sicht zusammenfassen, dass Karate sehr gute Voraussetzungen für effektive Selbstverteidigung bietet - wenn in den Trainings neben dem reinen "top down"-Techniktraining auch regelmäßig und ausreichend "bottom up" trainiert wird. Regelmäßiges und intensives Karate-Training bietet mit diesem ausgewogenen Mix aus "top down" und "bottom up" gute Voraussetzungen für ein selbstsicheres Auftreten und für die Möglichkeit, sich zu schützen. Zugleich ist Karate durch die Trainingsdisziplin und die permanente Arbeit an sich selbst ein Lebensweg, der die Fähigkeit der Selbstreflexion stärkt und für Ausgeglichenheit sorgt und auf diesem Weg die Fähigkeiten, mit Konflikten konstruktiv um zugehen und sie ohne Gewalt zu lösen, stärkt. 

Wer sich allerdings - z. B. aus beruflichen Gründen - schnell und gezielt auf spezielle Selbstverteidigungssituationen vorbereiten will oder muss, dem könnte das traditionelle Shotokan-Karate-Training nicht zielgerichtet genug sein und der Erfolg mag zu lange auf sich warten lassen. Da bieten sich vielleicht eher Konzepte wie Street Combatives an, welches ich sehr empfehlen kann. Allerdings stellt sich auch hier der Erfolg nicht auf Knopfdruck ein und es muss regelmäßig und konsequent trainiert werden.