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Mittwoch, 15. August 2018

Mein Schatz, der Asperger

Nach über 25 Jahren Ehe und beinahe 30 Jahren Beziehung habe ich meinen Mann bei einem Essen anlässlich seines 51. Geburtstages gefragt: "Hast Du eigentlich schonmal darüber nachgedacht, ob Du Autist bist?" - "Ja klar, wie heißt das nochmal? Alzheimer Autist? Ach nee: Asperger Autist." Ich war platt! Er hatte da für sich schon drüber nachgedacht und mir nichts davon gesagt. Dabei hatte mich sein Verhalten immer wieder vor Rätsel gestellt, wütend und traurig gemacht. Ich hatte zig Versuche unternommen, diesen Menschen zu verstehen. Unsere Beziehung schien mir häufig einseitig - immer war ich es, die Dinge anstieß, Schönes plante, sich Zeichen der Zuneigung ausdachte und "an den Mann brachte" - häufig ganz ohne Echo. Oft genug fühlte ich mich in Freundes- und Bekanntenkreisen unwohl, weil mein Mann sich gegen alle Konventionen verhielt und damit anderen Menschen vor den Kopf stieß, die mich daraufhin fragend und vielleicht auch ein bisschen vorwurfsvoll ansahen. Er wirkt nicht krank oder "behindert", so dass ich irgendwie nie auf Autismus gekommen wäre. Aber er war schon deutlich "anders" als andere Männer.

Wir lernten uns 1984 anlässlich einer Jugendfreizeit in Südengland kennen. Viele in der Gruppe kannten sich untereinander - wir waren wohl die einzigen Kids, die keinen Anschluss hatten. Kurz nachdem ich am Fenster Platz genommen hatte, wurde ich von jemandem gefragt: "Is' hier noch frei?" Und es folgten viele Kilometer ohne weitere Kommunikation. Ich sah aus dem Fenster, er in den Gang und ich fühlte mich allein. Bei einem Zusteigestopp in Köln sah einer von uns - ich kann mich nicht erinnern, ob er es war oder ich - auf der Straße einen Jaguar E-Type: "Guck mal ein E-Type!" Und so begannen wir schließlich doch ein Gespräch - über Autos und dann auch über dies und das und es wurde irgendwie richtig lustig! In England hatten wir eine gute Zeit mit einem großen Teil der Gruppe. Da in einem Alter von 16-18 Jahre jeder irgendwie versuchte, so cool wie möglich zu sein, fielen kurze und knappe Antworten nicht weiter auf und waren eher lustig, als ungewöhnlich. Nach dem Urlaub verloren wir uns nach einer Weile aus den Augen.

Auf einer Silvesterparty 1988/89 trafen wir uns dann durch Zufall wieder: Ich war mit drei oder vier Freunden in der Stadt und als es auf 0 Uhr zu ging, überlegten wir, dass es netter wäre, zusammen mit anderen Freunden anzustoßen. Uns fiel ein, dass einer aus unserem Lehrjahr Leute eingeladen hatte (uns leider nicht ;-) ) und nicht weit entfernt wohnte. Wir besorgten Getränke und machten uns auf den Weg dorthin, wo wir kurz vor Mitternacht ankamen. Beim Betreten des Wohnzimmers sah ich meinen Urlaubsbekannten aus England und stieß erfreut aus: "Ach, Du bist Frank! Wir waren zusammen in England!" Ein mürrischer Blick traf mich: "Keine Ahnung. Ich war schon viermal in England." Pffft, ok, dann halt nicht!
Nach dem Jahreswechsel nahm man dann wieder im Wohnzimmer Platz. Plötzlich sprang Frank auf, stieß dabei beinahe mehrere Getränkeflaschen um und platzte heraus: "Du heißt Andrea. Und du wohnst bei Ratio (Anmerkung: ein großer Supermarkt in der Nähe des Hauses meiner Eltern). Und dein Freund fährt Taxi (der Freund, den ich zur Zeit des England-Urlaubs hatte war tatsächlich Taxifahrer gewesen)!" Wir verbrachten den Rest des Abends auf der Küchenbank und versuchten, unsere Erinnerungen aufzufrischen. Nicht mehr ganz nüchtern verabschiedete ich mich dann in der Frühe und Frank meinte: "Ich ruf dich an." Jaja, den Spruch kannte ich in der Zeit zur Genüge - und meist kam dann doch kein Anruf! Hier aber doch: Am nächsten Spätnachmittag gegen 18 Uhr klingelte das Telefon. "Hallo, hier ist Frank." "Oh, das ist aber nett, dass Du anrufst!" "Ich hab doch gesagt, dass ich anrufen werde!", kam etwas unwirsch zurück. However - wir trafen uns öfter und waren ab da "zusammen".

Der Kollege aus meinem Lehrjahr, zu dem wir uns an Silvester selbst eingeladen hatten, gehörte zu den engsten Freunden meines damaligen neuen Freundes und so rutschte auch ich in diese Gruppe rein. Frank war ganz zu Beginn unserer Freundschaft bei der Bundeswehr in Dülmen. Er erzählte nicht viel von dort, nahm nie oder selten an Saufgelagen der anderen Soldaten teil und hatte dort den Spitznamen "Prinz Valium", weil er häufig abwesend und teilnahmslos wirkte.

In der Zeit vor unserer Hochzeit hatten wir einmal einen Abend in der Altstadt verbracht. Um Taxigeld zu sparen, liefen wir zu Fuß sicher 6 Kilometer nach Hause und plötzlich platzte mein Mann heraus: "Sollen wir es offiziell machen?" "Hä? Was "offiziell" - was meinst Du?" "Naja, verloben, so mit Ringen und so!" Ich war platt! Bisher waren wir beide immer viel zu cool gewesen für sowas - ne enge Bindung? Heiraten? Haus und Kinder? No way! Und jetzt das! Aber irgendwie auch total süß und wie konnte ich da nein sagen? :-) Anlässlich eines Hochzeitstages knapp 30 Jahre später fragte ich ihn dann mal, was ihn dazu veranlasst hätte, mir in genau diesem Moment einen Antrag zu machen! Der Akt an sich war für ihn total untypisch - und warum grad in dem Moment? "Mir war plötzlich klar geworden, dass mit dieser Frau keine Rechnung offen bleibt!", so sein Kommentar. Ob das so die Antwort ist, die frau an einem Hochzeitstag hören will? Ich glaube nicht! Nun, nach ein paar Wochen kamen wir nochmal auf diese Situation zurück und da meinte er: "Nein, nein, das hast Du falsch verstanden - das bezog sich nicht auf finanzielle Dinge. Ich meinte, dass ich bei Dir so sein kann, wie ich bin und mich nicht verstellen muss." Hach, das klang dann doch schon viel besser, wobei ich rückblickend die ursprüngliche Wortwahl dann schon sehr missglückt fand....

Im Sommer 1993 bezogen wir ein kleines Reihenhäuschen, mein Elternhaus - das Haus, in dem ich aufgewachsen war - ich kannte alle Nachbarn, als wir es Anfang der 1990er Jahre bezogen. Nach den ersten Monaten in diesem Haus wurde ich von einer der älteren Nachbarinnen angesprochen: "Was habe ich Deinem Mann denn getan? Er grüßt überhaupt nicht zurück?" Ich sprach meinen Mann darauf an und er beteuerte felsenfest, dass er diese Frau einfach nicht gesehen habe. Leider änderte sich dieses Verhalten auch fortan nicht - die Nachbarn blieben ungegrüßt, mussten sich an diesen Zustand gewöhnen und ich musste mit diesem Umstand leben, dass mein Mann ein nicht-soziales Leben in diesem kleinbürgerlichen Umfeld führte.

Einmal hatte ich Kolleginnen und Kollegen zu einem Abendessen eingeladen. Wie es in diesem Kreis üblich war, war auch mein Mann zugegen. Statt wie die anderen Ehepartnerinnen und -partner am ungezwungenen Gespräch am Tisch teilzunehmen, saß er teilnahmslos und in sich versunken daneben. "Ich kenne diese Menschen nicht, worüber soll ich mich mit ihnen unterhalten?", war sein anschließender Kommentar. Meine Kollegen machten sich natürlich nicht nur an diesem Abend, sondern auch noch in den folgenden Wochen und Monaten über dieses Verhalten lustig.

Mein Mann begleitete mich dann auch selten auf Feierlichkeiten. Ich hatte im Laufe der Jahre gelernt, dass es besser ist, ihn nicht zu überreden, wenn er nicht mitkommen möchte. Auf eine Hochzeit einer Freundin aus Kindertagen, die als erfolgreiche Vielseitigkeitsreiterin über einen großen Bekanntenkreis mit vielen wohlsituierten und kultivierten Menschen verfügt, wollte er dann überraschender Weise doch mitkommen! Wir blieben zwar weitgehend unter uns, hatten aber einen schönen Abend zu zweit, tanzten und hatten Spaß. Irgendwann nahte dann der Abschied. Der Bräutigam gab meinem Mann lächelnd die Hand mit den Worten: "Schön, dich kennen gelernt zu haben, vielleicht sehen wir uns ja mal wieder." Das Lächeln des Bräutigams gefror, als mein Mann antwortete: "Ich glaube nicht!" Später erklärte er: "Ich habe in dem Moment überlegt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ich diesem Menschen wieder begegnen würde und die war gleich null. Also hab ich das auch gesagt."

Die Zuwendungen, die ich als Partnerin und Ehefrau erhielt, hielten sich in bescheidenen Grenzen. Nach einem Geburtstagsgeschenk, welches ich am Anfang unserer Beziehung bekommen hatte, ging ich an meinem Ehrentag fortan leer aus. Es gab auch keine anderen Geschenke oder Aufmerksamkeiten. Das machte mich traurig und auch wütend und irgendwann platzte mir der Kragen und ich sprach meinen Mann darauf an, bat ihn, mir künftig etwas zu schenken, wenigstens eine Kleinigkeit zum Geburtstag und zu Weihnachten, muss nicht teuer sein, nur etwas, an dem ich erkenne, dass er an mich gedacht hat. "Das ist doch blöd", sagte er, "wenn ich Dir jetzt was schenke, dann denkst Du doch, das mache ich nur, weil Du es mir vorher gesagt hast!" Stimmte irgendwie ja auch, aber das war mir egal und das sagte ich ihm auch. Ich kam mir fortan ein bisschen kindisch vor, wenn ich auf einem Geschenk zu meinen Gunsten bestand, aber irgendwie fand ich, ich hätte auch ein bisschen das Recht auf ein Zeichen der Wertschätzung und Aufmerksamkeit. Inzwischen kümmert sich meine große Tochter häufig darum, meinen Mann daran zu erinnern, mir eine kleine Aufmerksamkeit zu besorgen. Neulich kam er aber ganz stolz zu mir und verkündete: "Ich hab schon ein Weihnachtsgeschenk für die Frau!" Und es war dann auch eine wunderschöne Überraschung und sehr originell und kunstvoll eingepackt. Ich bedankte mit sehr herzlich und er antwortete: "Ich hab gedacht, die Frau freut sich."

Im Brief- oder Mail-Verkehr laut bis heute seine Anrede immer: "Hallo Frau," und er verabschiedet sich mit "hdl (Anmerkung: hab dich lieb), Mann".

Seit wir fest davon ausgehen, dass mein Mann das Persönlichkeitsmerkmal Autismus besitzt, ist unsere Beziehung in eine ganz andere Dimension gelangt! Fantastisch, den eigenen Ehemann nach knapp 30 Jahren Beziehung endlich zu verstehen! Neulich waren wir im Theater und anschließend Essen. Beim Essen fragte er dann plötzlich (ich weiß gar nicht mehr, wie wir auf das Thema kamen...jedenfalls fragte er): "Sag mal, wo ist eigentlich der Unterschied zwischen dem Gefühl, das man gegenüber einer Person empfindet, wenn man schon lange zusammen ist und dem Gefühl, frisch verliebt zu sein?" Ich dachte, er will mich auf den Arm nehmen, aber er meinte die Frage wirklich ernst! "Also, beides sind angenehme, schöne Gefühle", fing ich an - so wie man mit einem Dreijährigen spricht! "Beim Frischverliebtsein ist da noch ein Gefühl der Aufregung, ein Kribbeln im Bauch." "Ach, so wie bei der Fahrprüfung?" "Äääääh - Fahrprüfung? Oh, ich äh, ich glaube nicht! Also vor der Fahrprüfung hat man doch eher angst. Und beim Verliebtsein freut man sich." (Vollkommene Verwirrung bei mir....! Wie kann man diese Situationen miteinander vergleichen?????)  "Ja, aber", so mein Mann weiter, "bei der Fahrprüfung freu ich mich doch auch! Danach kann ich doch ein Leben lang Auto oder Motorrad fahren!?" "Hm, so hab ich das noch nicht gesehen. Ja. Dann ist das für Dich vielleicht doch ähnlich. Mit dem Unterschied, dass Du in einer Beziehung vielleicht ein Leben lang Freude hast, die Spannung von der Fahrprüfung solltest Du aber vielleicht alle paar Wochen mal wiederholen und etwas Schönes und Überraschendes tun, damit deine Partnerin sich bestätigt fühlt." "Achso!!!! Und ich hatte mich schon gefragt, warum ich zu Hause andauernd in die Nachprüfung muss!"

Zum Theater noch eine schöne Geschichte: Kurz nach unserer "Erkenntnis" über Autismus waren wir in einer Vorstellung von Kafkas "Verwandlung". Nach dem Stück fragte ich meinen Mann: "Und, Schatz, wie hat Dir das Stück gefallen?" "Ich habe den Sinn nicht verstanden und es gab drei Versprecher."

Wie schon beschrieben legt mein Mann keinen großen Wert auf Begrüßungsfloskeln. Ich bin schon froh, wenn er "hallo" sagt, sobald wir einen Raum betreten (hab mich aber auch schon dran gewöhnt, dass der Gruß ausbleibt). Als sich neulich entferntere Bekannte, die bei uns zu Besuch waren, verabschieden wollten, gab es das übliche In-den-Arm-Nehmen und drücken. Ich staunte nicht schlecht und freute mich, als mein Mann da mittat! Als ich ihm das hinterher sagte, meinte er: "Ich hab mir das angeguckt und dachte "ach, ok, das mit dem Umarmen machen alle, das scheint so üblich zu sein, dann mach ich das auch mal." "

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