Im Mai 2015 lud der Bushido Siegen e. V. zum dritten mal dazu ein, im Rahmen eines zweitägigen Karate-Lehrgangs den Geist der Samurai kennenzulernen: Unter dem Titel Samurai Spirit boten unser Nationalcoach Sensei Thomas Schulze (5. Dan) und sein Karatemeister, der aus Johannesburg in Südafrika stammende Shihan Malcolm Dorfman (8. Dan), einen erstklassigen Lehrgang. Eine Besonderheit für meinen Karatepartner Torsten Uhlemann und mich: Etwa vier Wochen vor dem Lehrgang meldete sich ein neues Mitglied bei unserer Karateschule an - der aus Südafrika und aus dem Dojo Malcolm Senseis stammende George! Auch unter diesem Aspekt war die Teilnahme am Lehrgang für uns und George natürlich "Pflicht"!
Südafrika, Johannesburg - ein raues Pflaster mit einer extrem hohen Kriminalitätsrate! So ist es kein Wunder, dass Malcolm Sensei seine Zeit nicht auf "schönes" Karate verschwendet, sondern sich darauf konzentriert, wie die Techniken "auf der Straße" funktionieren. Im Dojo mag man für seine nächste Gürtelprüfung trainieren - als Wettkämpfer für Medaillen oder Pokale ... aber all das nützt nichts, wenn man um sein Leben kämpfen muss. Zum Glück leben wir in unserer beschaulichen Westfalenmetropole ja grundsätzlich sehr friedlich und Münster ist sicher kein Vergleich zu Johannesburg. Aber dennoch sollten wir die Grundidee des Karate, "Ikken Hissatsu", nicht aus den Augen verlieren und immer so trainieren, als käme es jetzt auf genau diese eine Technik an, die wir grade ausführen!
Karate zum Überleben - aber auch: Karate ein Leben lang! Malcolm Sensei achtete penibel auf Bewegungsmuster, die es uns ermöglichen sollen, möglichst lange und ohne übermäßige Verschleißerscheinungen zu trainieren. Dies war ihm offenbar so wichtig, dass er zu Beginn des Lehrgangs ein etwa einstündiges Mondo mit uns abhielt, bei dem er uns auf die korrekte Ausführung verschiedener Techniken und die Stellung bzw. Haltung unserer Beine und Arme hinwies.
Das meiste ist jedem, der viele Jahre trainiert, wohl schon bekannt, aber eine Auffrischung in dieser Runde war sehr interessant, zumal man dann anschließend im Training wieder einen neuen Fokus auf die korrekten Bewegungen legte: Das Knie des vorderen Beins sollte über dem großen Zeh stehen, der hintere Fuß sollte maximal 20 Grad ausgedreht sein. Bei der Hanmi-Stellung kann das hintere Knie gebeugt werden, sollte aber dennoch in die Bewegungsrichtung zeigen. Auch auf die korrekte Gewichtsverteilung bei unseren Basis-Ständen Zenkutsu Dachi und Kokotsu Dachi wies der Shihan hin. Wichtig war ihm, dass wir den Körper beim Start einer Technik oder eines Angriffs im Rahmen einer Selbstverteidigungssituation zunächst ein wenig absenken: "drop and execute", so lautete seine Botschaft.
Sein Hauptaugenmerk lag aber mit Sicherheit auf dem korrekten - und für meine Begriffe: extremen Hüfteinsatz. Die Hüfte sollte jeweils "bis zum Anschlag" ein- bzw. ausgedreht werden, so dass man z. B. bei der Hanmi-Stellung den Oberkörper im Winkel von 90 Grad zur Bewegungsrichtung ausgerichtet hat. Auch wenn ich diese Anweisung im vergangenen Jahr bereits vernommen hatte, so ist sie mir immer noch ungewohnt und scheint mir sehr extrem. Aber ich muss zugeben, dass Malcolms Techniken sehr präzise und stark wirken und mit Sicherheit durch seinen ausgeprägten Hüfteinsatz unterstützt werden.
Auch bei unserem Nationalcoach Sensei Thomas Schulze stand das konsequente und direkte Partnertraining ohne Schnörkel und Kompromisse im Vordergrund. Wir starteten mit auf den ersten Blick recht vertraut wirkenden Bewegungsmustern: vor mit Tsuki Chudan, dann Druck auf das vordere Bein und 45 Grad zurück rausgleiten und mit demselben Arm (dem, der grade den Tsuki gemacht hatte) Gedan Barei gefolgt von Gyaku Tsuki. Variante: Tsuki Chudan, vorderes Bein schräg nach hinten ziehen und mit dem anderen Arm Gedan Barei, Gyaku Tsuki. Dies wurde hinterher zu einer Partnerübung ausgebaut. Mir fiel hierbei die zweite Variante - die, bei der das vordere Bein schräg nach hinten gezogen wurde - erheblich schwerer! Zahlreiche Partnerwechsel hielten den Geist wach und erforderten eine erhöhte Aufmerksamkeit und Flexibilität.
Thomas Sensei baute die Übungen dann mehr und mehr Richtung Freikampf aus, so dass wir in der allerletzten Einheit am Samstagnachmittag trotz unserer zum Teil schon recht großen Erschöpfung nochmal alle Sinne und Kraftreserven mobilisieren mussten, damit wir gegen unsere Partner bestehen konnten. Das sah nämlich dann z. B. so aus: Angriff Kizami Tsuki, Block Soto Uke Jodan mit Gewichtsverlagerung und direkt mit demselben Arm rausschießen Kizami Tsuki und Gyaku Tsuki - der andere hatte den Kizami zu blocken und konterte Gyaku Tuki Jodan. Ich stand hier der gesamten Siegener Karate-Elite gegenüber, die zum Teil auf Nationalkaderniveau trainieren. Da ging es gut zur Sache und ich durfte mir keine Unkonzentriertheiten erlauben!
Bei Malcolm Sensei erfolgte für mich persönlich der Trainings-Spannungsbogen nicht linear nach oben, sondern in Wellenbewegungen quasi in die Spitze und manchmal auch wieder etwas herunter in Phasen, bei denen ich kurz die Ressourcen schonen konnte. Wir starteten nämlich mit einer "Straßenkampf"-Übung, bei der nicht mit Karatetechniken angegriffen wurde, sondern mit zwei klassischen Schwingern von außen. Hier sollten wir als Uke den Oberkörper weit zur Seite drehen, wie es ja der Trainingslehre des Shihan entspricht. Dabei sollten wir den Angriff jeweils mit unseren Handflächen zur Seite wischen. Bei der Ansage, dass jetzt eine realistische Übung folgen würde, war ich froh, grade jetzt einem Karateka mit sicher 1,90 m Körpergröße und einer furchteinflößenden Statur gegenüber zu stehen. Denn: Wie würde in der Realität im schlimmsten Fall mein Angreifer aussehen? Genau SO! Versuche eines Gehilfen des Senseis, mich einem anderen Trainierenden meiner Größe oder vielleicht einer weiblichen Karateka zuzuweisen, schlug ich daher ziemlich mutig in den Wind. Mein Ungehorsam sollte dann ordentlich bestraft werden, denn ich bezog zwar nicht über Gebühr Schläge - meine Haken wurden allerdings mit Übermaß abgeblockt, und zwar erfolgte die Abwehr nicht wischend und mit den Handflächen, sondern wurden mit den Handkanten abgestoppt. Im Realitätsfall weiß ich jetzt, was ich machen muss, damit es dem anderen den Spaß verdirbt, mich anzugreifen - aber die Übung sollte schon anders aussehen und so trug ich durch die festen Handkantenschläge gegen meine Oberarme im Laufe des Tages zunächst vor allem an der rechten Seite große Schmerzen davon und wurde in den nächsten Tagen mit einem den kompletten Unterarm bedeckenden, in schillernden Farben leuchtenden Hämatom "belohnt".
Dass bei diesem Lehrgang das Thema Kata nicht im Vordergrund stehen würde, hatte ich mir fast gedacht. Dennoch nahm sich Malcolm Sensei mit der Gojushiho Sho eine unserer höchsten Katas vor. Demonstrieren durfte sie kein Geringerer als unser Bundesjugendwart Tobias Prüfert, der mit dieser Kata bereits zahlreiche Wettkämpfe - darunter auch die Deutsche Meisterschaft - gewonnen hatte. Dass auch die besten Karateka gelegentlich korrigiert werden, tröstet vielleicht den ein oder anderen Anfänger - die Korrekturen der Kata von Tobias bezogen sich allerdings lediglich auf die realitätisbezogene Ausführung: Weglassen überflüssiger Schnörkel, die auf einem Wettkampf überzeugen mögen, in der Realität aber wertvolle Sekunden kosten, schnellere Drehungen, um einen Angriff abzublocken etc. pp. Es war sehr beeindruckend, was Tobias mit Malcolm Senseis Hilfe im Laufe der Einheit aus der Kata herausschälen konnte! Wir anderen waren natürlich aufgefordert, ihm nachzutun, was uns vermutlich nur ansatzweise gelang.
Dass bei diesem Lehrgang das Thema Kata nicht im Vordergrund stehen würde, hatte ich mir fast gedacht. Dennoch nahm sich Malcolm Sensei mit der Gojushiho Sho eine unserer höchsten Katas vor. Demonstrieren durfte sie kein Geringerer als unser Bundesjugendwart Tobias Prüfert, der mit dieser Kata bereits zahlreiche Wettkämpfe - darunter auch die Deutsche Meisterschaft - gewonnen hatte. Dass auch die besten Karateka gelegentlich korrigiert werden, tröstet vielleicht den ein oder anderen Anfänger - die Korrekturen der Kata von Tobias bezogen sich allerdings lediglich auf die realitätisbezogene Ausführung: Weglassen überflüssiger Schnörkel, die auf einem Wettkampf überzeugen mögen, in der Realität aber wertvolle Sekunden kosten, schnellere Drehungen, um einen Angriff abzublocken etc. pp. Es war sehr beeindruckend, was Tobias mit Malcolm Senseis Hilfe im Laufe der Einheit aus der Kata herausschälen konnte! Wir anderen waren natürlich aufgefordert, ihm nachzutun, was uns vermutlich nur ansatzweise gelang.
Später folgten dann Übungen im Stile Shiahn Yaharas mit den für ihn typischen Rotations-Kombinationen: Angriff Tsuki Chudan, Block Soto Uke, Drehung (mit Drehung des kompletten vorderen Fußes!) und Uraken und nochmal Drehung zurück mit Uraken Chudan. Die zweite Drehung konnte dann wahlweise auch gesprungen werden, wobei man echt gut aufpassen musste, dass man dem anderen nicht die Faust vor den Kopf schleudert! Es war auf jeden Fall sehr gut nachvollziehbar, dass diese Rotationskraft immensen Schaden anrichten kann!
Später entwickelten wir dann noch eine Okuri-Kumite-Übung zu fünft - Uke stand in der Mitte und die vier Angreifer außen, jeweils auf 12, 3, 6 und 9 Uhr. Angriff jeweils Tsuki Chudan - erste Uke-Reaktion: Gedan Uke mit gleichzeitigem Chudan Konter; zweiter Angreifer war der im Uhrzeigersinn Nächste: Für Abwehr und Konter musste sich Uke 270 Grad hinten herum drehen und den Angriff mit Yoko Geri Kekomi abstoppen. Das tretende Bein wurde zurück gezogen, Knie oben lassen, denn der nächste Angreifer steht in 180 Grad vom vorigen (auf "neun Uhr" vom ersten Angreifer aus gesehen). Dessen Tsuki sollte mit Mae Tobi Geri gestoppt werden, dann Drehung links rum auf "6 Uhr" und Block des letzten Angriffs mit Soto Uke und weit ausgedrehter Hüfte - Vorspannung - mit abschließendem, nach vorne schnellenden Gyaku Tsuki.
Nach vielen Monaten und Jahren verletzungsbedingter Schonung im Training war ich unendlich dankbar, alle Einheiten des Samurai Spirit Seminars mitnehmen zu können. Allerdings gebe ich zu, dass Torsten und ich kurz vor Ende der letzten Einheit einen schwachen Impuls verspürten, vorzeitig die Heimfahrt anzutreten - eineinhalb Tage Vollgas mit anwendungsorientiertem Karate, vielen Kumite-Sequenzen und zudem ja auch noch einer recht weiten Anreise pro Trainingstag hatten doch ihre Spuren (nicht nur in Form blauer Flecke) hinterlassen. Da aber unser Schüler George noch gut gelaunt und scheinbar top fit zwischen seinen verehrten Senseis hin und her schlenderte und keinerlei Anzeichen von Müdigkeit erkennen ließ, hielten es auch Torsten und ich für unsere Pflicht, bei der letzten Einheit unseren "Mann" zu stehen. Denn - gehört nicht auch dieses Kämpfen um die letzten Kraftreserven, dieser absolute Wille, etwas zu Ende zu bringen zum "Geist eines Samurai"? Ich denke schon und so hielten wir durch und kämpften und überlebten und zumindest ich für meinen Teil kann sagen, dass ich ziemlich stolz am späten Abend meine Pizza genießen konnte, bevor ich total verausgabt in die Daunen sank!