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Freitag, 31. Januar 2020

Macht Karate aggressiv?

Gelegentlich werden wir vor allem von Eltern gefragt: „Macht Karate nicht aggressiv?“ 
Die Antwort lautet: nein. Und: ja. 

Ich habe mich grade im Rahmen einer Fortbildung mit dem Thema Aggressionen näher beschäftigt und mich auf die Spuren des wunderbaren Peter Levine begeben (amerikanischer Biophysiker, Psychologe und Trauma-Therapeut, hier speziell sein Buch „Sprache ohne Worte“). 

Aggressionen sind grundsätzlich nichts Schlechtes, sondern Ausdruck von Kraft und Lebensenergie. Der Begriff Aggression (lat. aggressiō / aggredī sich auf etwas oder jemanden zubewegen, heranschreiten, sich nähern, angreifen) bedeutet übertragen auch: etwas anzugehen, etwas erreichen zu wollen. Gesunde, zielgerichtete Aggressionen dienen dazu, zu bekommen, was man im Leben braucht (Nahrung, Kleidung, Unterkunft, LebenspartnerIn etc.) und zu schützen, was man hat.
Auf dem zielgerichteten Ausleben von Aggressionen beruhen letztlich auch unsere Leidenschaften und unsere Lebenslust. Aggressionen dienen dazu, Grenzen zu setzen. Ungehinderte, klar ausgerichtete Aggressionen verkörpern Selbstschutz. Wir empfinden dann keinen Ärger, sondern spüren, wie wir eine offensive Haltung von Selbstbehauptung, Selbstschutz und Kampfbereitschaft einnehmen. Aggressionen führen erst dann zu Ärger und Wut, wenn wir nicht in der Lage sind, Konflikte zu lösen. Aus diesem Grund haben wir Elemente des Konflikttrainings bereits in unsere Kindertrainings integriert. Zudem bieten wir spezielle Kurse für Konfliktkommunikation für Kinder im Grundschulalter an („Stärke statt Streit“). Wir sind der Meinung, dass wir so dazu beitragen, Gewaltpotenziale zu verringern. 

Zudem kann es passieren, dass gesunde Aggressionen in einen chaotischen, unproduktiven, reaktiven emotionalen Zustand führen, wenn die Aggression abrupt gestoppt wird, z. B. durch eine versperrte Flucht. Derselbe Zustand kann sich einstellen, wenn einem Menschen in einer als gefährlich empfundenen Situation schlichtweg keine Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Karate wird daher bei uns bereits in den Trainings für Vorschulkinder als Eigenschutztraining praktiziert. (Wir vermeiden den Begriff Selbstverteidigung, da hierunter meist allein die körperliche Reaktion auf Angriffe verstanden wird, also Abwehr im Sinne von Schlagen, Treten usw. Unser Eigenschutzkonzept ist jedoch ganzheitlich aufgestellt und bezieht insbesondere auch die Vermeidung, Kommunikationsmöglichkeiten und die Fähigkeit, zu deeskalieren mit ein.) Den Kindern werden möglichst viele Handlungsspielräume eröffnet, um in Konfliktsituationen je nach Ausprägung des Konflikts angemessen reagieren zu können. 

In unseren Karatestunden für Kinder und Jugendliche vermitteln wir in altersgerechten Abstufungen den Umgang mit unseren Aggressionen. Stillere Kinder werden gestärkt, Kinder, die aus Sicht ihrer Umwelt eher schnell überreagieren, lernen, ihre Aggressionen zu kontrollieren. Entscheidend ist hier vor allem, den Übergang von gesunder Aggression zu unkontrollierter Wut und Raserei zu erkennen und hier kurz innehalten zu können. Im Karate soll ganz im Sinne der asiatischen Philosophie „der Geist klar und leer sein wie ein Spiegel oder die Oberfläche eines stillen Sees“. Nur wenn wir ohne Groll, Ärger und Wut sind, können wir besonnen handeln und unser gesamtes Potenzial über Vermeidung / Flucht, Kommunikation, Deeskalation, Selbstbehauptung und technischem Eigenschutz nutzen. Hier sind die im Karate gelebten Werte sehr hilfreich: Bereits die Kleinsten lernen bei uns den respektvollen Umgang miteinander, Werte wie Höflichkeit, Bescheidenheit, Geduld und Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft werden nicht nur in unserer Dojo Kun am Ende eines jeden Trainings zitiert, sondern auch während der Übungen regelmäßig erinnert und praktiziert. 

Zusammengefasst lässt sich daher sagen: Karate lehrt unter anderem zielgerichtetes und kontrolliertes Ausagieren von Aggressionen und bietet daher eine Option zur Steigerung der der Zufriedenheit und der Lebenslust. 

Und wir gehen auch weiter und bieten Eltern in persönlichen Beratungsterminen und Coachings Hilfe an. So können Eltern ihren Kindern helfen, mit Aggressionen umzugehen: 
Viele Eltern sind hilflos im Umgang mit Wut und Aggressionen ihrer Kinder. Zum Teil wird versucht, Wutausbrüche kategorisch zu unterbinden und Aggressionen zu unterdrücken. Häufig führt dies dazu, dass die Wut zu anderer Zeit oder an anderer Stelle dann unkontrolliert und verstärkt ausbricht (in der Schule, gegenüber anderen, schwächeren Kindern etc.). Andere Eltern lassen der Wut ihrer Kinder freien lauf, wollen oder können sie nicht stoppen. Beides ist wenig hilfreich. Wünschenswert wäre es, dem Kind einen Raum für die kindlichen Aggressionen schaffen, um sie so zu kanalisieren, dass sie dem Kind nützen. Die Eltern sollten dem Kind möglichst erlauben, seinen Ärger zu spüren und ihm dadurch helfen ihm, zu verstehen, warum es so wütend ist. 




Montag, 6. Juni 2016

Gefahrenradar bei Rock am Ring

Als Selbstverteidigungstrainerin beschäftige ich mich seit geraumer Zeit mit dem Begriff des Gefahrenradars. In meinen Seminaren vermittele ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, eine gelassene Wachsamkeit an den Tag zu legen, sobald sie sich außerhalb der eigenen vier Wände befinden. Werden ungewöhnliche Umstände wahrgenommen, soll auf das Bauchgefühl gehört und der Gefahr möglichst noch aus dem Weg gegangen werden.

Dieses Prinzip des Gefahrenradars bzw. der gelassenen Wachsamkeit kennnen Karateka auch als "Zanshin" - dieser Begriff beschreibt eine Wach- und Aufmerksamkeit, die bereits vor Beginn einer Übung beginnt und über das Ende hinaus gehen soll. Oder, um es mit den Worten Toribio Senseis zu sagen: Es handelt sich um situationsübergreifende Wach- oder Achtsamkeit.

Abseits des Karatetrainings wurde mir das Prinzip erstmals ganz konkret von meinem Coach Ralf Bongartz vermittelt: In der Ausbildung zur Fachpädagogin für Konfliktkommunikation erfuhr ich vom Gefahrenradar, vom Ausschalten ablenkender Faktoren (Smartphone etc.) im Alltag und auch hier von der Wahrnehmung feinster Faktoren, die für eine gefährliche Situtation sprechen könnten. Auch das Street-Combatives-Programm beinhaltet diese Prinzipien und vermittelt z. B. die verschiedenen Aufmerksamkeitsstufen aus dem Cooper Color Code.

Mit Bedauern stelle ich häufig fest, dass es mit der Wahrnehmung potenziell gefährlicher Situationen bei vielen Menschen nicht weit her ist. Wie kommt das? Haben wir uns schon so daran gewöhnt, die Verantwortung für unsere Sicherheit und unser Handeln an andere Institutionen (Eltern, Lehrer, Staat...) abzugeben, dass wir nicht mehr eigenverantwortlich agieren können? Sind wir schon so "programmiert", dass wir uns z. B. eher auf die Angaben in einer Wetter-App verlassen, statt mal aus dem Fenster zu sehen? Leben wir schon zu sehr in computer-animierten Schein-Welten, in denen man sich nach Bedarf mehrere "Leben" kaufen kann?

Anfang des Jahres las ich speziell in sozialen Medien häufig Aussagen wie:"Ich sehe das gar nicht ein, dass ich als Frau nachts nicht mehr alleine auf die Straße gehen soll." Oder: "Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, mit "angezogener Handbremse" zu feiern und meinen Alkoholkonsum zu zügeln, nur damit ich noch im Falle eines Übergriffs angemessen reagieren kann." Das sind sicherlich ganz persönliche Einstellungen und das kann ja auch jede/r für sich selbst entscheiden. Allerdings finde ich es dann konsequent, wenn man dann auch für sich selbst die Verantwortung übernimmt.

Was mich jetzt aktuell allerdings sehr erschrocken hat, waren die Ereignisse rund um den Abbruch des Mega-Events "Rock am Ring". Bereits in den Tagen vor Beginn des Musik-Festivals waren in Deutschland schwerste Unwetter niedergegangen, die zum Teil komplette Ortschaften verschüttet hatten. Auch zu Beginn des Festivals gab es Unwetterwarnungen. Ich kann es gut verstehen, dass man nicht bei jedem Gewitter gleich eine ganze Veranstaltung absagen möchte und darum war es mit Sicherheit vertretbar, zunächst mit dem Event zu beginnen. Leider gab es bereits am ersten Abend einen Blitzeinschlag mit über 70 verletzten Personen, zwei davon mussten sogar reanimiert werden. Ich gehe davon aus, dass die Veranstalter am nächsten Tag sorgfältig abgewogen hatten, bevor sie sich dazu entschlossen, die Konzerte fortzuführen. Abends mussten dennnoch wegen weiterer Unwetter die Veranstaltung unterbrochen werden. Am dritten Tag entzog dann die Gemeinde Mendig letztlich "Rock am Ring" die Veranstaltungs-Erlaubnis und der dritte Tag fiel aus. Sicher - sehr bedauerlich für die Bands, für die Veranstalter und sicher auch für die Gäste, die zum Teil 200 Euro für die Karten bezahlt hatten.

Aber....jetzt zum Gefahrenradar: Wenn doch ganz offensichtlich um mich herum grade die Welt untergeht und der Veranstaltungsort bereits so in Regen und Schlamm versackt ist, dass die Autos zum Teil schon mit Traktoren aus dem Sumpf gezogen werden müssen, die Zelte zerstört sind und es bereits zu zahlreichen verletzten Personen gekommen ist - sollte da nicht auch allmählich bei den Gästen mal das Bauchgefühl sagen, dass die Situation langsam gefährlich wird? Dass die aktuelle Wetterlage nicht nur leichte Sommergewitter im Gepäck hat? Und selbst WENN die Gäste vielleicht im Partyrausch die Brisanz des Unwetters nicht realisieren - dann sollten sie doch spätestens nach Abbruch der Veranstaltung ohne zu klagen nach Hause fahren und nicht noch nach "Verantwortlichen" suchen, von denen sie ihr Eintrittsgeld zurück bekommen. Was, wenn es am dritten Tag zu weiteren Überflutungen, zu weiteren Blitzeinschlägen gekommen wäre? Wäre dann nicht der Aufschrei und die Suche nach Verantwortlichen groß gewesen? http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-06/rock-am-ring-rockfestival-eifel-unwetter-abgebrochen

Vielleicht müssen wir das wirklich wieder lernen. Unsere Umgebung wahrzunehmen. Gefahren zu erkennen. Auf das Bauchgefühl zu hören. Und an den Himmel zu schauen, statt auf die Wetter-App.