Gelegentlich werden wir vor allem von Eltern gefragt: „Macht Karate nicht aggressiv?“
Die Antwort lautet: nein. Und: ja.
Ich habe mich grade im Rahmen einer Fortbildung mit dem Thema Aggressionen näher beschäftigt und mich auf die Spuren des wunderbaren Peter Levine begeben (amerikanischer Biophysiker, Psychologe und Trauma-Therapeut, hier speziell sein Buch „Sprache ohne Worte“).
Aggressionen sind grundsätzlich nichts Schlechtes, sondern Ausdruck von Kraft und Lebensenergie. Der Begriff Aggression (lat. aggressiō / aggredī sich auf etwas oder jemanden zubewegen, heranschreiten, sich nähern, angreifen) bedeutet übertragen auch: etwas anzugehen, etwas erreichen zu wollen. Gesunde, zielgerichtete Aggressionen dienen dazu, zu bekommen, was man im Leben braucht (Nahrung, Kleidung, Unterkunft, LebenspartnerIn etc.) und zu schützen, was man hat.
Auf dem zielgerichteten Ausleben von Aggressionen beruhen letztlich auch unsere Leidenschaften und unsere Lebenslust. Aggressionen dienen dazu, Grenzen zu setzen. Ungehinderte, klar ausgerichtete Aggressionen verkörpern Selbstschutz. Wir empfinden dann keinen Ärger, sondern spüren, wie wir eine offensive Haltung von Selbstbehauptung, Selbstschutz und Kampfbereitschaft einnehmen. Aggressionen führen erst dann zu Ärger und Wut, wenn wir nicht in der Lage sind, Konflikte zu lösen. Aus diesem Grund haben wir Elemente des Konflikttrainings bereits in unsere Kindertrainings integriert. Zudem bieten wir spezielle Kurse für Konfliktkommunikation für Kinder im Grundschulalter an („Stärke statt Streit“). Wir sind der Meinung, dass wir so dazu beitragen, Gewaltpotenziale zu verringern.
Zudem kann es passieren, dass gesunde Aggressionen in einen chaotischen, unproduktiven, reaktiven emotionalen Zustand führen, wenn die Aggression abrupt gestoppt wird, z. B. durch eine versperrte Flucht. Derselbe Zustand kann sich einstellen, wenn einem Menschen in einer als gefährlich empfundenen Situation schlichtweg keine Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Karate wird daher bei uns bereits in den Trainings für Vorschulkinder als Eigenschutztraining praktiziert. (Wir vermeiden den Begriff Selbstverteidigung, da hierunter meist allein die körperliche Reaktion auf Angriffe verstanden wird, also Abwehr im Sinne von Schlagen, Treten usw. Unser Eigenschutzkonzept ist jedoch ganzheitlich aufgestellt und bezieht insbesondere auch die Vermeidung, Kommunikationsmöglichkeiten und die Fähigkeit, zu deeskalieren mit ein.) Den Kindern werden möglichst viele Handlungsspielräume eröffnet, um in Konfliktsituationen je nach Ausprägung des Konflikts angemessen reagieren zu können.
In unseren Karatestunden für Kinder und Jugendliche vermitteln wir in altersgerechten Abstufungen den Umgang mit unseren Aggressionen. Stillere Kinder werden gestärkt, Kinder, die aus Sicht ihrer Umwelt eher schnell überreagieren, lernen, ihre Aggressionen zu kontrollieren. Entscheidend ist hier vor allem, den Übergang von gesunder Aggression zu unkontrollierter Wut und Raserei zu erkennen und hier kurz innehalten zu können. Im Karate soll ganz im Sinne der asiatischen Philosophie „der Geist klar und leer sein wie ein Spiegel oder die Oberfläche eines stillen Sees“. Nur wenn wir ohne Groll, Ärger und Wut sind, können wir besonnen handeln und unser gesamtes Potenzial über Vermeidung / Flucht, Kommunikation, Deeskalation, Selbstbehauptung und technischem Eigenschutz nutzen. Hier sind die im Karate gelebten Werte sehr hilfreich: Bereits die Kleinsten lernen bei uns den respektvollen Umgang miteinander, Werte wie Höflichkeit, Bescheidenheit, Geduld und Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft werden nicht nur in unserer Dojo Kun am Ende eines jeden Trainings zitiert, sondern auch während der Übungen regelmäßig erinnert und praktiziert.
Zusammengefasst lässt sich daher sagen: Karate lehrt unter anderem zielgerichtetes und kontrolliertes Ausagieren von Aggressionen und bietet daher eine Option zur Steigerung der der Zufriedenheit und der Lebenslust.
Und wir gehen auch weiter und bieten Eltern in persönlichen Beratungsterminen und Coachings Hilfe an. So können Eltern ihren Kindern helfen, mit Aggressionen umzugehen:
Viele Eltern sind hilflos im Umgang mit Wut und Aggressionen ihrer Kinder. Zum Teil wird versucht, Wutausbrüche kategorisch zu unterbinden und Aggressionen zu unterdrücken. Häufig führt dies dazu, dass die Wut zu anderer Zeit oder an anderer Stelle dann unkontrolliert und verstärkt ausbricht (in der Schule, gegenüber anderen, schwächeren Kindern etc.). Andere Eltern lassen der Wut ihrer Kinder freien lauf, wollen oder können sie nicht stoppen. Beides ist wenig hilfreich. Wünschenswert wäre es, dem Kind einen Raum für die kindlichen Aggressionen schaffen, um sie so zu kanalisieren, dass sie dem Kind nützen. Die Eltern sollten dem Kind möglichst erlauben, seinen Ärger zu spüren und ihm dadurch helfen ihm, zu verstehen, warum es so wütend ist.