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Sonntag, 7. März 2021

Warum hilft denn keiner? - Gründe für (unterlassene) Hilfeleistung

 Warum hilft denn keiner?

 

Wegschauen und weitergehen: Viele Menschen reagieren in Notsituationen falsch und kneifen, wo Hilfe dringend nötig ist. Doch "unterlassene Hilfeleistung" ist kein Kavaliersdelikt. Angst und Ekel zählen nicht als Ausrede.

 

Wie lässt es sich erklären, dass immer wieder Unfälle oder Verbrechen geschehen, ohne dass anwesende Zeug*innen helfend eingreifen?

 

Zuschauer*innen-Effekt / Bystander-Effekt (Aronson/Wilson/Akert) 

-       Situative Faktoren beeinflussen in bestimmten Fällen das Verhalten von Zuschauer*innen in Notsituationen

-       Hierbei sind drei Phänomene zu unterscheiden: 

o   Pluralistische Ignoranz: Zuschauer*innen nehmen an, dass es sich bei dem beobachteten Vorfall nicht um einen Notfall handelt, weil auch von den anderen anwesenden Personen niemand besorgt wirkt und aktiv wird. Die Untätigkeit wird so interpretiert, dass keine Reaktion notwendig sei.

o   Verantwortungsdiffusion: Hierbei handelt es sich um das Phänomen, dass bei Zuschauer*innen in Notfällen das persönliche Gefühl, für eine Hilfeleistung verantwortlich zu sein, abnimmt, je mehr Personen anwesend sind. 

o   Bewertungsangst / Hemmung: Einzelne Personen greifen im Notfall nicht ein, weil sie fürchten, etwas falsch machen zu können (z. B. bei Erster Hilfe). Je unvertrauter die Situation ist, desto größer ist die Hemmung. Diese Bewertungsangst oder Hemmung kann auch durch die Angst ausgelöst werden, sich vor anderen anwesenden Personen zu blamieren, wenn die Hilfeleistung nicht erfolgreich ist. 

 

Kosten-Nutzen-Modell (Aronson/Wilson/Akert) 

-       Das Leid einer anderen Person kann Zuschauenden unangenehme Gefühle verursachen. Durch Hilfeleistung können diese Gefühle abgebaut werden. In diesem Fall hat die Hilfeleistung einen Nutzen: Die helfende Person fühlt sich nach erfolgter Hilfeleistung besser. 

-       Demgegenüber verursacht die Hilfeleistung häufig einen Aufwand (Überwinden-müssen, Zeitverlust, sich selbst in Gefahr bringen etc.).

-       Die Abwägung zwischen dem guten Gefühl nach einer Hilfeleistung und dem erforderlichen Aufwand ist nach Aronson/Wilson/Akert ausschlaggebend dafür, wie eine Person in einer Notfall-Aktion reagiert. 

-       Die Hilfeleistung geschieht demnach auch aus Eigeninteresse: wenn der Nutzen (das „gute Gefühl“) größer ist als der Aufwand. 

 

Prosoziales Verhalten

-       Umfasst alle Formen zwischenmenschlicher Unterstützung 

-       Urban-Overload-Hypothese (Milgram): Hilfsbereitschaft ist in der reizüberfluteten Umgebung einer Stadt geringer als auf dem Land

 

Warum helfen wir überhaupt? – drei prosoziale Normen im gelebten Alltag (Werth und Mayer)

-       Wir helfen aufgrund von sozialer Verantwortung.

-       Wir helfen aus dem Bedürfnis der Gerechtigkeit heraus.

-       Wir helfen besonders denen, die uns auch helfen würden. 

 

Lässt sich Hilfsbereitschaft lernen? 

Die oben beschriebenen Phänomene sind uns vermutlich allen mehr oder weniger vertraut. Das Wissen darüber kann helfen, in einem entscheidenden Moment nicht tatenlos zu bleiben. Folgende Schritte können uns helfen, Notsituationen einzuschätzen: 

 

1.     Ereignis bemerken: Achtsamkeit im öffentlichen Raum, Menschen und Umgebung mit entspannter Aufmerksamkeit betrachten und auf diese Weise z. B. bemerken, dass eine Person in Not sein könnte

2.     Ereignis als Notfall erkennen: lieber zweimal hinschauen, als wegzuschauen! 

Wenn möglich, die hilfsbedürftige Person fragen, ob sie Hilfe benötigt („Auftrag abholen“) oder andere umstehende Personen fragen, ob sie das Ereignis auch als Notfall wahrnehmen (und vielleicht gemeinsam mit Ihnen eingreifen würden)

3.     Übernahme der Verantwortung: sich nicht darauf verlassen, dass andere helfen und die eigene Unterstützung nicht erforderlich ist

4.     Kompetenz für Notfälle erlangen: Besuchen eines Erste-Hilfe-Kurses, Rettungschwimmer-Kurs belegen, Fort- und Weiterbildungen besuchen, Informations-Angebote der Polizei wahrnehmen; im Zweifel kann fast immer die Polizei per Handy angerufen werden. Wichtig ist, nichts zu unternehmen, was Helfende selbst in Gefahr brächte! 

5.     Bewertungsängste und Hemmungen abbauen: Durch das Wissen über die eigene Kompetenz schwinden Bewertungsangst und Hemmung. Die Kosten-Nutzen-Abwägung wird mit zunehmender Notfall-Kompetenz aller Wahrscheinlichkeit nach zugunsten einer Hilfeleistung ausfallen. 

 

Montag, 10. Oktober 2016

Zivilcourage - kann auch schief gehen!

"Nutze Deine Angst - damit die Zivilcourage nicht in die Hose geht!" So hätte der ergänzte Titel des Seminars mit Ralf Bongartz lauten können, das tatsächlich nur unter dem Namen "Nutze Deine Angst" am 08.10.2016 im Fuji San stattfand.

Zivilcourage und Deeskalation waren die Themen des Seminars, zwei Begriffe, die mich seit einigen Jahren beschäftigen. Und unmittelbar eine Woche vor dem Seminar hatte ich selber hautnah ein Erlebnis, in dem ich Zivilcourage zu üben hatte. Leider ging dabei ziemlich viel daneben und darum hatte ich gleich ein Gesprächsthema, als ich Ralf am Abend vor dem Seminar im Hotel abholte und wir uns zu einer Vorbesprechung zum Seminar trafen.

Ich erzählte Ralf, dass ich mich mit meinem Mann auf der Rückreise aus dem späten Sommerurlaub befunden hatte. Unser Flug hatte Verspätung und so waren wir froh, als wir kurz nach Mitternacht endlich im Regionalzug vom Flughafen Düsseldorf nach Münster saßen. Der Zug war schon rappelvoll, aber wir bekamen noch je einen Sitzplatz, unter dem wir unser Gepäck verstauen konnten.

Nach einer Weile stieg ein Mann ein, etwas ungepflegt, schlaksig und vermutlich auch angetrunken oder bekifft - er machte jedenfalls keinen nüchternen Eindruck. Er setzte sich im Winkel von 90 Grad zu mir auf eine Bank neben eine sehr adrette blonde Frau, die er direkt ansprach und nach der Station in Herne fragte. Genau genommen fragte er nur:"Herne?", und die Frau antwortete ihm sehr freundlich, dass es bis Herne noch ein paar Stationen seien. Er fragte noch etwas und die Frau antwortete überaus freundlich, dass sie darauf leider keine Auskunft geben könne. Sie wollte sich dann ihre Ohrstöpsel wieder in die Ohren stecken und augenscheinlich ihre Ruhe haben. Der Mann aber ließ nicht ab! Er textete sie weiter zu und sie schüttelte den Kopf, bat um Abstand und um Ruhe. Daraufhin griff der Mann ihren Arm und hielt sie fest, zog sie ein Stück zu sich ran und versuchte, sie zu streicheln. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! "Fassen Sie die Frau nicht an!", rief ich zu ihm rüber. Ein erstaunter Blick in meine Richtung seitens des Kerls und ein dankbarer aus den Augen der Frau.

Der Mann war sichtlich verärgert, dass ich es gewagt hatte, ihn zu stören und in die Situation einzugreifen. Er wandte sich jetzt mir zu und murmelte mir mit wütendem Blick zum größten Teil unverständliches Zeug entgegen. Jedes zweite Wort war "Assi" oder "Nazi". Das ging bei mir links rein und rechts wieder raus, ließ mich kalt. Gleichwohl hatte ich das Bedürfnis, mich zu behaupten und hielt seinem Blick stand. Er murmelte weiter und weiter aber mich beeindruckte das nicht. Die blonde Frau war inzwischen mit einem gehauchten "Danke" an mir vorbei gezogen und ausgestiegen und eine andere Frau hatte vergeblich versucht, dem Mann klar zu machen, dass grade "Herne" war und er hätte aussteigen müssen. Der Mann bekam davon aber nichts mit und murmelte mir weiter irgendwelche Beleidigungen entgegen. Auch wenn es langsam ermüdend war, hätte ich das vermutlich mit stoischer Ruhe bis Münster weiter ausgehalten. Aber plötzlich geschah etwas total überraschendes: Mein Mann sprang auf und brüllte den anderen Kerl lauthals an:"Jetzt reichts mir aber! Lass meine Frau in Ruhe! Ich hab jetzt aber mal echt die Schnauze voll!" Oder so ähnlich. Der Typ riss den Blick von mir, sprang ebenfalls auf und stierte jetzt meinen Mann an, murmelte jetzt ihm seine Unfreundlichkeiten entgegen. Mein Mann - sonst die Ruhe in Person! - geriet immer mehr in Rage und das übertrug sich auch auf den anderen Kerl, der jetzt begann, seine Jacke auszuziehen und sich auf den "Kampf" einzustellen. Ich ging dazwischen, indem ich versuchte, meinen Mann zu beruhigen, was aber nur mäßig erfolgreich verlief. Zeitgleich kam ein stockbesoffenes Pärchen, das schon mit acht vollen Bierdosen in die Bahn eingestiegen war, auf den anderen Kerl zu, versuchte ihn zu beschwichtigen und bot ihm ein Bier an, um ihn abzulenken. Glücklicherweise gelang das auch. Die drei saßen uns dann gegenüber und nun mussten wir uns von allen drei anhören, wie "Assi" und "Nazi" wir sind bzw. was für beschissene Streitschlichter wir wären! Hä? Nun, ich fands total ungerecht! Aber was willste machen? Immerhin war der Streit soweit geschlichtet und ich hatte jetzt eine Menge Hausaufgaben, indem ich darüber nachdache, wie die gut gemeinte Absicht, einer Frau zu helfen, so eskalieren konnte!

Ich kam zu dem Schluss, dass ich folgendes hätte anders und besser machen können:
- Grundsätzlich war die Idee, den Mann davon abzuhalten, die Frau zu begrapschen ok. Allerdings hätte ich mir vorher von der Frau einen "Auftrag" dafür holen sollen, z. B. mit der Frage: "Entschuldigung, brauchen Sie Hilfe?" Es war zwar für mich augenscheinlich, dass sie die Berührung nicht wollte, aber vielleicht hätte sie sich ja auch selber kurz darauf geäußert. Dadurch, dass ich die Frau angesprochen hätte und nicht den Typen, hätte er ggf. noch die Gelegenheit gehabt, sein Gesicht zu wahren und die Situation wäre nicht so eskaliert.
- Nachdem er mich so auf dem Kieker hatte, mich anstarrte und anmurmelte, hätte ich nicht versuchen sollen, den Blick aufrecht zu halten. Ich hätte auf derselben Augenhöhe woanders hinblicken können oder ich hätte vielleicht mal nicken können und ihm irgendetwas Deeskalierendes zurückmurmeln können, wie: "Hey, ist ja nicht gegen Sie persönlich, aber ich finde es nicht in Ordnung, wenn Sie Frauen anfassen." - Naja, liest sich hier etwas albern, aber in der Situation hätte es vielleicht geholfen.
- Ich hätte auch versuchen können, einen anderen Platz zu finden (war allerdings nicht so einfach, da der Zug recht voll war und ich ja auch noch mein Gepäck dabei hatte) und dem Typen aus dem Weg zu gehen.

Drei gute Ideen, die mir erst im Nachhinein kamen. Wie sagte Coach Ralf so schön, als ich ihm von dem Vorfall erzählte? "Da kann man noch so viele Trainings machen, häufig macht das limbische System in der Realität doch was es will." Denn ich hatte einfach das Gefühl, dass ich mich behaupten müsste, in dem Moment. Dass ich hier hätte deeskalieren können und sollen, kam mir gar nicht in den Sinn, ich war einfach sauer, dass da eine Frau belästigt wurde!

Außerdem hatte mich geärgert, dass sich dann auch noch Unbeteiligte gegen mich stellten und im Nachhinein MICH dann als Blödmann abstempelten, obwohl ich doch helfen wollte. Da war also auch noch eine gehörige Portion gekränkter Eitelkeit mit im Spiel.

Dass mich der Vorfall so ärgerlich machte, ließ mein Coach Ralf nicht gelten: Es mache keinen Sinn, so einen hohen Perfektionismus anzustreben. Letztlich hatte ich mein Ziel erreicht: Die Frau wurde nicht mehr belästigt. Wie andere Personen, die um mich herum stehen, reagieren könnten, konnte ich schlecht voraussehen. Vielleicht muss man das künftig mal mehr mit berücksichtigen, aber letztlich ist ja diesmal zum Glück alles gut gegangen. Durch das Seminar bei Ralf am 08.10.2016 bei uns im Dojo sind mir viele Sachverhalte zu den Themen Zivilcourage und Deeskalation noch einmal bewusst geworden und ich werde mich bemühen, diese weiter zu reflektieren und im Hinterkopf zu halten. All jene Leser, die deeskalatives Verhalten in diesem Fall fehl am Platze finden mögen, bitte ich, sich vorzustellen, wie eine weitere Eskalation in einem Zug-Wagon hätte ausgehen können - und wer möglicherweise von Zeugen hinterher als erster Täter genannt worden wäre (eventuell mein Mann?).

Nun - eine kleine Genugtuung bekam ich am Ende auch noch: Auch das betrunkene Pärchen mit den Bierdosen hatte nach einer Weile (wir waren ja lange schon an "Herne" vorbei!) genug von dem Laberkopp und war entgegen der Fahrrichtung in einen anderen Bereich des Wagons gegangen. Die Abwesenheit der beiden fiel dem Typen aber erst später irgendwann bei einem Halt an einem Dorf-Bahnhof plötzlich auf und er vermutete wohl, dass die beiden grade ausgestiegen waren. Er sprang aus dem Zug und die Türen schlossen sich. Als er seinen Irrtum bemerkte, trommelte er wie wild von außen gegen die Türen, die aber geschlossen blieben. So wird er wohl die Nacht auf dem Bahnhof in - ich glaube es war - Buldern verbracht haben.....