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Donnerstag, 2. Dezember 2010

"Ich sei, gewährt mir die Bitte, ...

...in Eurem Bunde der Dritte." War ich zu Oberstufenzeiten doch eher seinem Weimarer Nachbarn Goethe verbunden, so wurde mir bei der heutigen Abendveranstaltung im H1 "Görner spricht Schiller" der in Marburg geborene Dichterfürst  näher gebracht. Na klar, waren auch mir Gedichte wie "Die Glocke", "Der Taucher" und natürlich auch "Die Bürgschaft" vertraut. Und "Maria Stuart" hatte ich mir mit meinem Mann vor ein paar Jahren im Theater angesehen. Sogar sein Wohnhaus in Weimar habe ich bereits zweimal besucht. Heute verschaffte uns nun der in Weimar lebende Rezitator Lutz Görner einen unterhaltsamen und äußerst kurzweiligen Einblick in das Leben des Dichterfürsten. Unterstützt wurde er von dem Gitarristen Stefan Sell.Mann, Mann, Mann, was war das für ein Hallodri, der Herr von Schiller! Naja, all das ist - wie ja eigentlich bei all jenen Kreaturen, bei denen Genie und Laster dicht beieinander liegen - wohl auf Ereignisse in der Kindheit zurückzuführen: Schiller wollte und sollte ja eigentlich Pastor werden und war auch bereits einem Stift zugewiesen. Dann aber musste er eine Militärakademie besuchen, wurde dort erst zum Juristen, dann zum Militärarzt ausgebildet. Er verlebte seine komplette Jugend kaserniert und lernte daher keinen Umgang mit Geld oder dem anderen Geschlecht. Als er die Enge nicht mehr aushielt und ihm zu allem Übel noch das Dichten verboten wurde, riss er aus und floh nach Mannheim. Dort verschuldete er sich zum ersten - aber nicht zum letzten - Mal in seinem Leben so richtig ordentlich: Er brauchte Geld, weil er sein erstes Werk "Die Räuber" drucken lassen wollte. Der Erfolg ließ zunächst auf sich warten. Erst, als das Stück uraufgeführt und höchst emotionale Reaktionen bei den Zuschauern auslöste, begann die Welt, Schiller wahrzunehmen. In Mannheim hatte er dann ein Verhältnis mit der verheirateten Charlotte Kalb, die für ihn Jahre später in Weimar sogar ihren Mann verlassen wollte. Als sie und auch seine Gläubiger zu eng auf den Pelz rückten, nahm Schiller die Einladung vier junger (heute würde man wohl sagen) Fans aus Dresden an. Einer von ihnen lieh Schiller immer wieder größere Summen Geld - die aber irgendwie nie ausreichten! In Dresden, nun, kam der junge Dichterfürst völlig auf die schiefe Bahn: Alkohol, Opium, Bordellbesuche - also, ich bin doch jetzt echt etwas desilusioniert. Der war ja ein wahrer Junkie! So ein Lotterleben, auch! Kein Wunder, dass er jetzt in eine kreative Krise rutschte und kein Werk mehr gelingen wollte! Wieder floh er. Jetzt nach: Weimar. Hier kam er allerdings auch erst nicht so richtig an, spürte aber zumindest, dass er unmöglich weiter so ein Lotterleben führen konnte. Er sehnte sich nach einer Frau, die ihm zur Seite steht! Jetzt kam wieder Charlotte Kalb ins Spiel - aber zum Heiraten war sie ihm zu kapriziös. Viel verlockender fand er das Geschwisterduett Charlotte und Caroline von Lengefeld. Schiller verliebte sich in beide und - schlug ihnen doch tatsächlich eine ménage à trois vor! Das also ist die wahre Bedeutung des berühmten Schluss-Zitats aus der "Bürgschaft": Ich sei, gewährt mir die Bitte, in Eurem Bunde der Dritte."! Nun, aus dem flotten Dreier konnte aber auf Dauer nichts werden. Es müssen ja auch nicht alle Träume verwirklicht werden. Immerhin heiratete Schiller eine der Schwestern, Charlotte, und schien mit ihr auch in den ersehnten, ruhigen Hafen der Ehe eingefahren zu sein. Jetzt klappte es auch mit dem Schreiben wieder, bis - ja, bis er schwer erkrankte und ihn wiederkehrende Krankheitsschübe mehrfach an den Rand des Todes brachten. Eigentlich heißt es ja "totgesagte leben länger" - aber auf ihn traf das leider nicht zu: Eine Stuttgarter Zeitung hatte wenige Monate vor seinem Tod verkündet, Schiller sei gestorben (gab es damals schon die BILD??), obwohl er noch lebte. Dann aber, am 9. Mai 1805, starb das Genie, das nicht nur Dichter, sondern auch noch Historiker und Philosoph war - ermutlich an den Folgen einer Tuberkulose. Als man seinen Leichnam obduzierte, fand man fast alle Organe außer Blase und Magen total zerstört! Er muss in seinen letzten Lebensjahren Höllenqualen gelitten haben. Er hinterläßt neben seinen großartigen Werken eine Biografie, die ihn  uns grade wegen seiner Widersprüche und all seiner Unvollkommenheit noch näher bringt.

Freitag, 12. November 2010

Auf des Lebens Stufenleiter

Ach, was sind wir dumme Leute!
Wir genießen nie das Heute.
Unser ganzes Menschenleben,
ist ein Hasten, ist ein Streben,
ist ein Bangen, ist ein Sorgen –
heute denkt man schon an morgen,
morgen an die spät're Zeit, -
und kein Mensch genießt das Heut',
auf des Lebens Stufenleiter
eilt man weiter, immer weiter...

Ja, wir leben zu geschwind heut' –
gar zu schnell entflieht die Kindheit –
schon der Knabe in der Schule
sitzt nervös auf seinem Stuhle –
von der Fibel wird ihm übel,
nur mit Sträuben lernt er schreiben,
und am liebsten möcht' er raus
aus dem schönen Elternhaus,
denn er glaubt, es sei gescheiter,
immer weiter, immer weiter...

Ist die Schulzeit dann zu Ende,
steht er an der Lebenswende, -
dünkt sich groß wie irgendeiner, -
wird als Lehrling sehr bald kleiner; -
wird gepufft, angepfiffen,
bis er endlich hat begriffen,
dass man nur durch Fleiß und Streben
sich behaupten kann im Leben. –
Und sein Pflichtenkreis wird breiter,
immer weiter, immer weiter...

Ist er Anfang Zwanzig eben,
denkt er schon ans Eheleben.
Ja, in einem Tanzlokale
sieht er sie zum ersten Male –
und am Abend bringt er's Liebchen
schon nach Haus’ bis vor ihr Stübchen.
Hold errötend sagt die Maid:
,Junger Mann, Sie geh'n zu weit!'
Doch trotzdem gehet der Begleiter
immer weiter, immer weiter...
Er, noch ganz erhitzt vom Tanze,
sagt zu ihr: ,Ich geh' aufs Ganze!'
Immer näher kommt zur Maid er –
sie rückt weiter, immer weiter.

,Komm', sagt er, 's ist nicht gefährlich,
wirst mein Weibchen brav und ehrlich,
in sechs Wochen bist du mein',
und er küsst das Mägdelein.
Und nun sagt sie froh und heiter:
,Küsse weiter, immer weiter.'
Ja, nun zählt er die Sekunden
bis man ihn mit ihr verbunden.
Ist das nicht ein toller Einfall?
's hat doch Zeit mit solchem Reinfall!
Er nimmt die geknickte Lilie.
Bald vermehrt sich die Familie ...
und nach kurzem hat er schon
auf dem Schoß den ersten Sohn.
Erst kommt einer - dann ein zweiter –
immer weiter, immer weiter...

Nun beginnt erst recht das Plagen,
oft hört man die beiden sagen:
,Wenn wir nur die Sorgen los sind,
wenn die Kinder nur erst groß sind,
dann strahlt uns der Himmel heiter.'
Und sie schaffen immer weiter,
lassen blind beim Vorwärtsgeh’n
ihres Lebens Rosen stehn,
suchen Tausendgüldenkräuter
immer weiter, immer weiter...

So entflieht die Zeit wie'n Traum
und die beiden merken's kaum –
erst verheirat’n sie ihr Mariechen,
dann verlob'n sie ihr Sophiechen,
dann kommt Walter zur Marine,
dann lernt Englisch die Pauline –
dann macht Wilhelm sein Examen –
dann komm'n noch zwei junge Damen,
eine sechzehn, eine vierzehn – (!)
das kost't Kleider, Hüte, Schürzen,
um sie richtig auszustatten
für den künft'gen Herrn und Gatten.
Und nie weiß man, wie man dran ist,
nie gibt's Ruhe, nie gibt's Frieden –
wenn die eine an dem Mann ist,
ist die and’re schon geschieden.
Wenn die Jüngste noch zu haben,
hat die Ält'ste schon 'nen Knaben,
erst kommt einer, dann ein zweiter
und so weiter, immer weiter...
Seh’n Sie, so entflieh’n die Jahre.
Großpapa hat weiße Haare.
Und der Mondschein zieht sich breiter,
immer weiter, immer weiter ...

Und er seufzt: ,Wie schön der Mai ist,
sieht man erst, wenn er vorbei ist.
Ach, wir waren blind', so klagt er
und zu seinem Enkel sagt er:
,Nutz’ den Frühling deines Lebens,
leb’ im Sommer nicht vergebens,
denn gar bald stehst du im Herbste,
bis der Winter naht, dann sterbste –
und die Welt geht trotzdem heiter
immer weiter'....

Otto Reutter (1870 – 1931)

Montag, 20. Juli 2009

Lenin kam nur bis Lüdenscheid

Kein Wunder, dass ein Mensch mit diesem Lebenslauf zum Philosophen wird und sich in einem späteren Werk fragt "Wer bin ich und wenn ja, wieviele?"! Die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren turbulente, chaotische Zeiten, in denen sich die Eltern des Autors Richard David Precht auf der Suche nach globaler Gerechtigkeit und unter anderem aus Protest gegen das Gebaren der USA in Vietnam politisch am äußeren linken Rand orientierten. Zu den drei leiblichen Kindern Hanna, Richard und Georg wurden zwei Waisenkinder aus Vietnam adoptiert und es folgte ein umfangreiches Engagement in Organisationen wie Terre des Hommes.

Äußerst bildhaft schildert Precht den unermüdlichen sozialen und politischen Engagement der Eltern und ihrer Freunde, nicht ohne die Ambivalenzen der linken Kultur der späten 60er und der 70er Jahre aufzuzeigen. So wundert sich Precht z. B., dass er von seiner Mutter stets dazu angehalten wurde, in der Schule auch gegen den Willen der Lehrer die eigene (linke) Meinung (oder war es vielmehr die Meinung seiner Mutter?) durchzusetzen - zu Hause wurden Widersprüche allerdings nicht geduldet. Die vielen Opfer des Vietnamkriegs wurden zu Recht vom linken Umfeld beklagt - die unzähligen Toten des roten Mao-Regimes galten offenbar aber als "Kollateralschäden" für die globale Gerechtigkeit. Diese Unstimmigkeiten regen heutige Leser wohl mindestens genauso auf, wie die seinerzeit von den Linken beanstandeten Mißstände und Ungerechtigkeiten.

Entstanden ist ein Buch, das mich beschäftigt wie lange keins mehr. Die vielen Bilder spuken noch in meinem Kopf herum und drängen mich gradezu, hier weiter nach Ursachen und Hintergründen zu forschen. Recht einfach zu recherchieren werden hierbei vermutlich die historischen Begebenheiten sein (Vietnamkrieg etc.). Schwieriger zu ergründen sind Fragen wie: Warum hatte sich die Großmutter Prechts das Leben genommen? Warum hat die Mutter die Familie verlassen (ich hätte eher verstanden, wenn der Vater Prechts, der offenbar eigentlich eher seine Ruhe haben wollte und wohl nicht so linksradikal war wie die Mutter, Reißaus genommen hätte) und vor allem: Warum hat Precht in seiner Lebensentwicklung offenbar die Pubertät ausgelassen (er durfte nicht Fernsehen, keine moderne Musik hören, weder modische Kleidung noch sonst übliche Konsumgüter genießen, musste statt dessen außschließlich Platten von Regimekritiker Degenhart hören), also die Entwicklungsphase, die gradezu nach Revoluzzertum schreit und in der man sich üblicherweise von seinen Eltern abgrenzt, seine eigene Persönlichkeit entwickelt?

Gradezu blind ist er statt dessen den Ideologien der Linken gefolgt, bis das System durch die sich verändernde Weltgeschichte quasi links und rechts überholt wurde. Tapfer schildert Precht, wie er mit vielen Sinnungsgenossen krampfhaft an den Ideen des Kommunismus und Sozialismus des Ostens festhält, obgleich sich inzwischen herausstellt, dass auch die Systeme der gelobten Länder Sowjetunion und DDR ihre Fehler haben. Nur zögerlich verblasst der rote Stern über dem Osten und läßt die Träume der Linken von einer gerechteren und lebenswerteren Welt wie Kartenhäuser zusammenfallen.

Prechts persönliches Schlüsselerlebnis war offenbar die Besichtigung des Tierparks Ostberlins. Zu diesem Zeitpunkt war er als reifer Jugendlicher noch absolut begeistert vom Zusammengehörigkeitsgefühl der Gesellschaft in der DDR, welches er als Kind bei einem Besuch nahe Magdeburg erlebt hatte. Ein Buch über den ostberliner Tierpark löste bei ihm in Kindertagen wahre Begeisterungsstürme aus und die Vision, einmal selber "Tierparkdirektor" zu werden. In seinen Träumen wandelt er durch den Park, kennt die Gehege beinahe auswändig und fast die Tiere beim Vornamen, freut sich mit den hunderttausenden von Besuchern, die in dem Buch abgebildet sind, malt sich aus, wie man den Park erweitern und vielleicht sogar noch schöner gestalten könnte.

Eines Tages sollte er den Tierpark nun endlich wirklich besuchen. Am Tag zuvor besichtigte er - quasi zum Vergleich - mit Bruder Georg zunächst den West-Berliner Zoo. Jaaaa, auch schon ganz nett. Aber doch ganz bestimmt nichts im Vergleich zu dem Ost-Tierpark am kommenden Tag. Wie schrecklich traf den Autor dann die Ernüchterung: Eine verfallene Aufbewahrungsanstalt für Tiere, eine Dauerbaustelle - und vor allem: Wo sind die vielen, begeisterten Arbeiter, die durch die Erholung des Tierparks ihre Arbeitskraft erhalten? Der Schock saß tief und langsam dämmerte es auch Precht, dass die Idylle des Sozialismus und des Kommunismus häufig nicht mehr waren als Potemkinsche Dörfer.

Irgendwie ein schönes Buch, ein lustig geschriebenes Buch, ein herrlich naiver Rückblick auf Jahrzehnte der Verwirrung und politischen Umorientierung, auf angstvolle Zeiten zwischen einem Weltkrieg und einer drohenden Atomkatastrophe. Irgendwie ein verwirrendes Buch voller politischer und soziologischer Brisanz, voller Sachverhalte, Probleme und Fragen, die bis heute rätselhaft und ungelöst sind. Und irgendwie ein Buch, das eine fatalistische, fast schon tröstliche Gelassenheit bei mir ausgelöst hat - scheinbar lassen sich die Geschehnisse auf der Welt, läßt sich das Schicksal der Menschheit nur begrenzt beeinflussen. Und: In den meisten Fällen lassen sich Kinder nicht durch extreme Erziehungsziele formen, häufig entwickeln sie sich schließlich sogar ins Gegenteil (Prechts zunächst linke Schwester Hanna achtet bei den eigenen Kindern plötzlich penibel auf Tischmanieren, der Sohn eines befreundeten (linken) Ehepaares wird zum rechtsradikalen Brandstifers mit Todesfolge).

Was ist das Resüme dieses Buches, welche Lehre zieht der Leser daraus? Vermutlich ist wie so oft auch bei der Lebensgestaltung der goldene Mittelweg die optimale Alternative, nicht zu weit links, nicht zu konservativ (Precht bezeichnet sich selber heute als konservativen Linken) und all das möglichst gemischt mit einer Prise gesunden Menschenverstands. Letzterer allerdings fliegt einem m. E. nicht einfach zu, den muss man sich erwerben - z. B. durch die Lektüre von Büchern wie diesem.