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Mittwoch, 5. Juni 2024

Wie wirkt Budo als japanisches Kulturgut auf westlich kultivierte Menschen? - Eine Betrachtung des Budos mit Bezug auf die Kulturdimensionen nach Hofstede

Im Rahmen der Ankündigung des diesjährigen (2024) Kata Spezial Events in Tauberbischofsheim veröffentlichte der Veranstalter folgende Anweisung: 

"Wichtiger Hinweis an die Dan-Träger, die am Kata-Spezial oder Gasshuku teilnehmen!
Eine Teilnahme von Dan-Trägern an Einheiten, die für bestimmte Kyu- oder andere Dan-Grade ausgelegt sind, bedarf einer Genehmigung durch einen Repräsentanten des Gasshuku e.V. (Horst Gallenschütz, Klaus Schäfer, Pascal Senn) und des jeweiligen Sensei.
Sollte diese erteilt werden, dann gilt die Regelung, dass sich diese Dan-Träger während des Trainings in die hintere Reihe stellen müssen!!!
Auch mit Genehmigung kann eine Teilnahme zudem nur dann erfolgen, wenn noch ausreichend Platz für das Training der Kyu- oder der anderen Dan-Grade vorhanden ist.
Ein respektloses Hineindrängen und Stören der Einheiten anderer wird nicht geduldet!
"Karate beginnt mit Respekt und endet mit Respekt"
OSS
der Gasshuku e.V."

Spontan wollte ich diese Aussage innerlich abnicken. Schließlich hatten sich Mitglieder unseres Dojos, die in der Unter- oder Mittelstufe an großen Lehrgängen teilgenommen hatten, schon mehrfach darüber beklagt, dass sich fremde Schwarzgurte in den Einheiten der Farbgurte in die vorderste Reihe stellten und den Farbgurten (für die die Einheiten ja eigentlich gedacht waren) die Sicht nahmen. Als ich jedoch intensiver über diese Situationen nachdachte, kam mir der Gedanke, dass japanische Karateka für Hinweise wie den des Gasshuku e. V. eventuell kein Verständnis hätten. Könnte es sein, dass es in der japanischen Kultur ganz selbstverständlich ist, dass Höhergraduierte - unabhängig von der Zielgruppe der Trainingseinheit - besonders disponierte Plätze einnehmen? Abschließend kann ich es nicht beantworten. Unbestritten ist jedoch, dass in der japanischen Kultur Hierarchien eine ganz andere Bedeutung haben als bei uns in Europa, in Deutschland. Ist es dann stimmig, wenn wir bestimmte Budo-Regeln abwandeln? Werfen wir einen Blick auf die unterschiedlichen Kulturen in Japan und in westlich kultivierten Ländern. 

Unterschiedliche Kulturdimensionen
Kultur ist nach Ansicht des niederländischen Kulturwissenschaftlers und Sozialpsychologen Geert Hofstede ein von mehreren Menschen geteiltes Programm für bestimmte Muster (im Denken, Wahrnehmen, Fühlen, Handeln, in Konzepten, Praktiken, Problemlösungen etc.) und gleichzeitig ist sie ein Mittel, Unterschiede zu anderen Gruppen oder Kulturen auszudrücken und festzulegen.  Es ist hier nicht nur Kultur im Sinne nationaler Herkunft gemeint, sondern auch die des Berufs, des Geschlechts, des Unternehmens oder Dojos, in dem die Menschen arbeiten oder lernen/unterrichten. Kultur ist niemals ein endgültiges Ergebnis, sondern entwickelt sich immer fort, weil Menschen ständig ihre Umwelt interpretieren und versuchen, in ihr einen Sinn zu sehen und angemessen mit ihr und den Mitmenschen umzugehen. Dieser Interpretationsansatz hat viel mit der Vergangenheit der Menschen zu tun und mit dem jeweiligen Kulturraum. Bei Kultur geht es im Gegensatz zur Geschichte nicht um die Speicherung, sondern um die Nutzung von Traditionen. Und in der Nutzung von Traditionen liegt auch die Möglichkeit zum Wandel
Zur Einordnung von Kulturen Hofstede folgende fünf Kulturdimensionen definiert: 
  • geringe vs. hohe Machtdistanz
  • Maskulinität vs. Femininität
  • schwache vs. starke Unsicherheitsvermeidung
  • hohe vs. niedrige Langzeitorientierung
  • Kollektivismus vs. Individualismus

Werfen wir einen Blick auf die japanische Kultur: Sie ist unter anderem geprägt durch die konfuzianische Ethik und den Feudalismus der Edo-Zeit, welche die Kultur des Landes aufgrund der selbstauferlegten Isolation über Jahrhunderte maßgeblich formte. Hier gelten entsprechend der fünf Kulturdimensionen Hofstedes folgende Attribute: hohe Machtdistanz, ein hoher Grad an Maskulinität, starke Unsicherheitsvermeidung, hohe Langzeitorientierung und stark ausgeprägter Kollektivismus. In Deutschland sind diese Attribute beinahe entgegengesetzt ausgeprägt, da bei uns vor allem das Zeitalter der Aufklärung mit Philosophen wie Kant und Rousseau Spuren in der Gesellschaft hinterlassen hat. Hier haben Machtdistanz und Maskulinität vor allem in den letzten 50 Jahren deutlich abgenommen. Zudem sind bei uns Unsicherheitsvermeidung und Langzeitorientierung geringer ausgeprägt als in Japan. Statt eines kollektivistischen Gemeinschaftsgefühls wird unsere Gesellschaft vom Streben nach Selbstbestimmung und Individualismus bestimmt. Kein Wunder, dass uns "typisch japanisch" ausgeprägtes Budo exotisch und fremd erscheint! 

Schauen wir uns die Kulturdimensionen des Budos einmal genauer an: Die hohe Machtdistanz spiegelt sich im Budo durch eine klare Hierarchie und  Strenge wider. In den Kampfkünsten ist die Hierarchie bereits an der Aufstellung im Dojo erkennbar: Die hohen Dan-Träger*innen stehen meist ganz rechts, die Anfänger*innen ganz links und die Kyu- bzw. Schüler-Grade (Deshi) stehen, der Graduierung nach geordnet, dazwischen. Dan-Träger*innen werden in Bezug auf die Position im Dojo und auch auf die zugeteilten Aufgaben privilegiert, tragen aber auch eine höhere Verantwortung als die niedriger graduierten Deshi. Dieses Hierarchie-Gefälle kann sich darin äußern, dass der im Karate geforderte Respekt in Japan nicht unbedingt gleichermaßen in beide Richtungen fließt, sondern dass vor allem die niedriger Graduierten den fortgeschrittenen Schüler*innen oder Meister*innen gegenüber Respekt erweisen müssen. Auch wenn die Haltung dann "von oben herab" erscheint, wird dies in Asien offenbar nicht als störend empfunden. Westlich kultivierte Menschen hingegen stören sich möglicherweise an einem stark ausgeprägten Hierarchiegefälle, weil bei uns auch im Alltag eine geringer ausgeprägte Machtdistanz gilt und eher flache Hierarchien anzutreffen sind: Die Chefin in der Firma wird gedutzt, Kinder werden in Kita und Schule partizipativ erzogen, autoritär agierende Führungskräfte und Lehrpersonen werden in unserer Gesellschaft eher wenig geschätzt. Ein einseitiges Respekt-Gebot von unten nach oben entspricht daher nicht unseren sonstigen kulturellen Rahmenbedingungen.  

Die japanische Kultur - und damit auch das Budo - ist zudem geprägt von einem hohen Grad an Maskulinität. Diese zeichnet sich laut Hofstede durch ein hohes Durchsetzungsvermögen und große Strenge aus. In femininen Gesellschaften verhalten sich die Mitglieder eher beziehungs- und kooperationsorientiert. In Deutschland ist die Kultur mäßig maskulin ausgeprägt. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die im Budo-Unterricht geltende Strenge zunächst befremdlich wirkt. Gleichwohl würde in Kampfkünsten ein wichtiger und charakteristischer Aspekt fehlen, wenn die Unterrichtsinhalte in den Stunden "durchdiskutiert" würden und der Unterricht "antiautoritär" erfolgte.  Daher ist den Dojos in Deutschland gegebenenfalls ein höheres Feingefühl der oder des Sensei im Umgang mit den Übungsklassen erforderlich als in Japan, um einen angemessenen Grad der Strenge auszudrücken. 

Eine weitere Kulturdimension asiatischer Kulturen ist nach Ansicht von Hofstede das Prinzip der Unsicherheitsvermeidung: Menschen in diesen Kulturen sind verunsichert, wenn Situationen eintreten, auf die sie nicht vorbereitet sind oder deren Anforderungen unklar oder gar widersprüchlich sind. Daher schätzen Menschen in diesen Kulturen es sehr, wenn möglichst viele Dinge klar geregelt sind und durch Regeln Recht und Ordnung herrschen. Hierauf kann es zurückzuführen sein, dass auch in den Budo-Kampfkünsten viele Regeln, Rollen und Routinen festgelegt sind und sich bestimmte Rituale eingespielt haben, deren Sinnhaftigkeit sich westlich kultivierten Menschen oft nicht auf den ersten Blick erschließt. Strenge Regeln werden in westlichen Kulturen, die einen geringer ausgeprägten Grad an Unsicherheitsvermeidung aufweisen, oftmals als einengend oder überflüssig empfunden und erzeugen ggf. sogar Widerstand und Misstrauen. Dies gilt vor allem dann, wenn der Sinn hinter den Regeln nicht ersichtlich ist. Wenn wir in unseren westlichen Dojos asiatische Budo-Regeln übernehmen, ist es meiner Meinung nach daher wichtig, die Bedeutung der Regeln zu kennen und auch erklären zu können. Das bewusste Umsetzen akzeptierter Budo-Regeln kann dann nicht nur im Budo-Unterricht, sondern auch im Alltag helfen, unsere Achtsamkeit zu stärken. Von dem im Dojo verlässlich etablierten Budo-Regelwerk profitieren auch in westlich kultivierten Ländern besonders jene Menschen, die in besonderem Ausmaß Unsicherheiten reduzieren oder vermeiden wollen. Dies können Kinder sein, aber auch Jugendliche oder Erwachsene, die sich im Alltag unsicher fühlen oder unter Ängsten leiden. Diese Personengruppen sind oftmals besonders dankbar für den festen Rahmen, der durch das Budo-Regelwerk geschaffen wird und können durch das Praktizieren von Kampfkünsten selbstsicherer werden und Ängste abbauen.   

Kulturen mit Langzeitorientierung streben nach der Definition von Hofstede langanhaltende Lösungen und Prozesse an. Dies zeigt sich im Budo vor allem darin, dass hier vor allem der Lernprozess zählt und nicht nur der kurzfristige Graduierungs- oder Wettkampferfolg. In der Budo-Praxis drückt sich dies  durch die konsequente und beharrliche Auseinandersetzung mit den technischen und spirituellen Inhalten der Kampfkunst aus. Langzeitorientierung lässt sich durch lang andauernde Beziehungen ermöglichen. Und auch dies lässt sich im Budo erkennen:  Zwischen dem oder der Sensei und den Schüler*innen bestehen meist enge und langjährige - oftmals sogar lebenslange - Beziehungen, die häufig auch über den Trainingsbereich hinaus in andere Lebensbereiche hineinreichen. 

Schließlich bleibt noch der Aspekt des Kollektivismus. Kollektivistisch geprägte Kulturen zeichnen sich durch Gruppenbildung aus. Die Mitglieder einer Gruppe unterliegen der Verpflichtung gegenseitiger Unterstützung und Hilfeleistung. Kinder wachsen in „Wir“-Begriffen auf.  Eigenen Bedürfnisse treten zugunsten der Gemeinschaftsinteressen zurück. In Japan ist die Kultur stark kollektivistisch ausgeprägt. Der Alltag ist daher in Japan durch eine große Hilfsbereitschaft und großen Respekt geprägt. Zusammenhalt, aufeinander Achten, Hilfeleistung und Zivilcourage sind hohe Werte, die auch durch Budo vermittelt werden können. Auf der anderen Seite fallen Menschen, die in Japan versuchen, sich von den Normen einer Gruppe zu distanzieren, auf und werden möglicherweise sanktioniert. Hierdurch kann großer sozialer Druck entstehen, der zu Einbußen der Lebensqualität führt. Eine weiterer Aspekt kollektivistisch ausgeprägter Kulturen ist die Abgrenzung zu anderen Gruppen. Dies kann sich durch gruppenintern einheitliche Zugehörigkeitszeichen äußern und eine Abgrenzungssymbolik zu anderen Gruppen. Im Karate Do zeigt sich dies beispielsweise durch die uniforme Trainingskleidung, die uns von anderen Sportarten oder Freizeitbeschäftigungen deutlich abgrenzt und auch zeigen soll, dass das Ausüben einer Kampfkunst etwas "Besonderes" ist. Da unsere Kultur weniger kollektivistisch ausgeprägt ist als die japanische und bei uns Individualität und Selbstbestimmung hohe Werte sind, lässt sich der im japanischen Budo gelebte Grad an Kollektivismus nicht vollumfänglich auf das in Deutschland gelebte Budo übertragen. Gruppengefühl und Einheitlichkeit lassen sich vermutlich nicht ganz ohne sozialen Druck auf die Übungsgruppen übertragen. Dennoch sollte hier maß- und respektvoll vorgegangen werden unter Beachtung der Menschenwürde.

Die Übernahme japanischer Kulturelemente in unsere Kampfkunst und vielleicht sogar in unseren Alltag kann insgesamt eine große Bereicherung sein. Gleichwohl können und müssen wir meiner Ansicht nach nicht alle japanischen Kulturaspekte hundertprozentig kopieren oder vollumfänglich übernehmen. Die Aufforderung des deutschen Gasshuku e. V., Respekt auch seitens der Dan-Träger*innen den Kyu-Graduierten gegenüber zu erweisen, ist daher stimmig - auch wenn in Japan vielleicht andere Regelungen gelten mögen.

Quelle: Kulturdimensionen Hofstede und Zeitorientierung nach Lewis und Hall  in "Interkulturelles Training - Trainingsmaterial zur Förderung interkultureller Kompetenzen in der Arbeit" Kumbruck und Derboven, Springer Verlag, Berlin Heidelberg, 2015


Anmerkung: Da dieser Artikel meine Gedanken wiedergibt und keine wissenschaftliche Arbeit ist, habe ich auf eine wissenschaftliche Zitationsweise zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichtet. Die Quelle meiner Gedanken ist das oben genannte Buch.




Dienstag, 14. März 2023

Ausbildung Budopädagogik - Gedanken zum eigenen Budo und Kulturvergleich

In der Ausbildung zur Budopädagogin/zum Budopädagogen wurden uns die Elemente des Budo vorgestellt: Bu, Do, Dojo, Reigi, Shitei, Zen. Gegenüber einigen Budo-Elementen empfinde ich Widerstand und würde sie abwandeln. Aber darf ich das? Muss Budo nicht unveränderlich sein, weil es eine Kultur ist und alten Traditionen entspricht? Es lohnt sich m.E., in diesem Zusammenhang die Frage zu stellen, was genau Kultur ist. Interessant ist es weiter, einen Blick auf die japanische Kultur zu werfen und einen Vergleich mit der bei uns gelebten Kultur heranzuziehen. 

Kultur ist „…ein von mehreren Menschen geteiltes Programm für bestimmte Muster (im Denken, Wahrnehmen, Fühlen, Handeln, in Konzepten, Praktiken, Problemlösungen etc.) und gleichzeitig ist es ein Mittel, unterschiede u anderen Kulturen auszudrücken und festzulegen.“ (Kumbruck und Derboven, 2015, S. 5). Es ist hier nicht nur Kultur im Sinne nationaler Herkunft gemeint, sondern auch die des Berufs, des Geschlechts, des Unternehmens oder Dojos, in dem die Menschen arbeiten oder lernen/unterrichten (Kumbruck und Derboven, 2015, S. 5). Kultur ist niemals ein endgültiges Ergebnis, sondern entwickelt sich immer fort, weil Menschen ständig ihre Umwelt interpretieren und versuchen, in ihr einen Sinn zu sehen und angemessen mit ihr und den Mitmenschen umzugehen. Dieser Interpretationsansatz hat viel mit der Vergangenheit der Menschen zu tun und mit dem jeweiligen Kulturraum (Kumbruck und Derboven, 2015, S. 6). Bei Kultur geht es im Gegensatz zur Geschichte nicht um die Speicherung, sondern um die Nutzung von Traditionen. Und in der Nutzung von Traditionen liegt auch die Möglichkeit zum Wandel (Kumbruck und Derboven, 2015, S. 7). Über diese Erkenntnis bin ich sehr dankbar. 

Die japanische Kultur ist unter anderem geprägt durch konfuzianische Ethik. Hier gelten entsprechend der fünf Kulturdimensionen Hofstedes folgende Attribute (Kumbruck und Derboven, 2015, S. 27)

  • hohe Machtdistanz
  • Maskulinität
  • starke Unsicherheitsvermeidung
  • hohe Langzeitorientierung
  • Kollektivismus  

Die hohe Machtdistanz spiegelt sich im Budo durch die klare Hierarchie und Strenge wider.  Da ich mit Karate aufgewachsen bin, kann ich mich dieser Form des Budo bis zu einem gewissen Grad … jetzt fehlen mir die Worte … ist es wirklich ein Unterwerfen? Ist es ein Ausliefern? Vermutlich müsste es genau eines dieser beiden Worte sein. Ich kann mich also bis zu einem gewissen Grad unterwerfen, wenn ich weiß, dass die Machtposition des Meisters (hier bleibe ich bewusst bei der männlichen Form, weil ich diese Machtdominanz von weiblichen Sensei noch nie so gespürt habe) nicht missbraucht wird und die Forderungen nicht willkürlich sind. Ich muss einen gewissen Sinn und ein Wohlwollen hinter den Forderungen erkennen oder zumindest ahnen und spüren.

Und die Hierarchie endet bei mir mit Ende der Übungsstunde. Ich habe wahrgenommen, dass dies nach der in der Ausbildung vorgestellten Budo-Idee anders ist und zum Beispiel auch beim abendlichen Bier am Lagerfeuer auf Hierarchien gepocht wird („Der Schüler muss sich sein Bier selbst holen, ein Meister-Schüler darf es ihm nicht bringen.“). Dies passt gut zur japanischen Kultur und vermutlich auch zu anderen asiatischen Kulturen – eben überall dorthin, wo die Kultur eine hohe Machtdistanz aufweist. Mir persönlich geht dies zu weit und ich empfinde dies als übergriffig in meinen privaten Bereich hinein – sowohl als Sensei, als auch als Schülerin. Eine starke Hierarchie und strenge Regeln können bis zu einem gewissen Grad den Charakter von Schülerinnen und Schülern fördern, Wertevermittlung unterstützen, für Klarheit und Ordnung sorgen – sie können aber auch zerstören und zu Gewalt und Missbrauch führen. Ich hatte in eine beruflichen Weiterbildung, die ich leitete, kürzlich unter den Teilnehmenden einen jungen japanischen Mann. Wir sprachen in der Gruppe über Gewalterfahrungen und er erzählte, dass er in seiner Kindheit und Jugend in der Schule in Osaka regelmäßig von Lehrern geschlagen wurde. Diese „Züchtigung“ habe zum Unterricht „dazu gehört“ und er habe darunter sehr gelitten. Mit seinen Eltern habe er darüber nicht sprechen können – die hätten ohnehin wohl das Verhalten des Lehrers unterstützt. Hohe Machtdistanz geht meist mit einem autoritären Führungsstil einher. Dieser „zeichnet sich durch direktives, autokratisches, hierarchisches und autoritäres Verhalten der Führungskraft“ aus (Kumbruck und Derboven, 2015, S. 54). Diesem Führungsstil liegt die Idee zugrunde, dass Menschen ungleich sind und dass die bestimmende Person die klügste ist mit den effektivsten Methoden. Im Extremfall kann dies zu einem Absolutismus führen. Hierarchie bedeutet im beruflichen Alltag Japans auch, dass Angestellte vor dem Boss im Büro erscheinen und es nicht vor diesem verlassen dürfen. Das Verlassen erfolgt dann oftmals gemeinsam und zwar in Richtung einer Bar, in der die Angestellten ihre „Qualitäten“ unter Beweis stellen müssen, in dem sie sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken (eigene Beobachtungen am Bahnhof in Oita und weiteren Orten in Japan). So eine Kultur kann und will ich nicht leben.  

Die japanische Kultur ist zudem geprägt von Maskulinität. Diese zeichnet sich durch ein hohes Durchsetzungsvermögen aus. In femininen Gesellschaften verhalten sich die Mitglieder eher beziehungs- und kooperationsorientiert. Beide Kulturen können Gemeinwohl und Fürsorge zum Inhalt haben aber in maskulinen Kulturen ist dies stark den Geschlechterrollen zugeordnet (Kumbruck und Derboven, 2015, S. 27). Dies hat z.B. in Japan zur Folge, dass Frauen sich auch heute noch – trotz Schulausbildung und Studium – nach einer Heirat in erster Linie um den Haushalt eines Paares kümmern müssen, um die Pflege der Kinder und der alten Eltern (Scott Langley, 2014, S 127). Ich hatte es bereits bei der Abschlussrunde des zweiten Moduls erwähnt, dass ich einen streng maskulinen Führungsstil unpassend finde und daher kann ich diesen Stil für mein Budo nicht kopieren. Für mich als Frau muss ein anderer Budo-Führungsweg möglich sein, bei dem ich mit weiblicher Konsequenz und Autorität anleiten und führen kann, so dass ich als Sensei authentisch bin. Ich denke, dass ich in meinem Dojo hier schon ein gutes Konzept lebe. Leider habe ich bisher Budo-Literatur ausschließlich von männlichen Autoren gefunden, so dass mir hier wissenschaftliche/literarische Inspiration fehlt. Ich bin daher sehr gespannt auf die weibliche Budopädagogin Jeannine Schröder beim Schweden-Modul. 

Eine weitere Kulturdimension asiatischer Kulturen ist das Prinzip der Unsicherheitsvermeidung: Menschen in diesen Kulturen haben Probleme damit, wenn Situationen eintreten, auf die sie nicht vorbereitet sind oder deren Anforderungen unklar oder gar widersprüchlich sind. Daher schätzen Menschen in diesen Kulturen es sehr, wenn möglichst viele Dinge klar geregelt sind und durch Regeln Recht und Ordnung herrschen. Personen, die im Gegensatz dazu in Kulturen mit niedriger Unsicherheitsvermeidung aufgewachsen sind, haben eher eine „hohe Ambiguitätstoleranz und Improvisationstalent“ (Kumbruck und Derboven, 2015, S. 27). Sie benötigen nicht viele Regeln, sind eher gewohnt, selbst zu entscheiden und zu improvisieren. Regeln werden oftmals als einengend empfunden und erzeugen ggf. sogar Misstrauen gegenüber den Personen oder Institutionen, die die Regeln aufgestellt haben und die Durchführung überwachen, Verstöße sanktionieren. Ich persönlich habe eher eine niedrige Unsicherheitsvermeidung. Meine Eltern gehörten der Kriegs- und Flüchtlingsgeneration an und waren schon deshalb wahre Improvisationstalente. Gleichwohl weiß ich klare Regeln und Strukturen zu schätzen und bin der Ansicht, dass es einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft hat, wenn Strukturen und Regeln sowie entsprechende Konsequenzen bei Verstößen den Alltag gestalten. Meine Erfahrung ist, dass viele Menschen – vor allem auch Kinder oder traumatisierte Personen – sehr dankbar sind über einen strukturierten Budo-Unterricht mit gleichförmigen Abläufen und verlässlichen Regeln. Die im Budo aufgestellten Regeln sollten m. E. klar definiert und nachvollziehbar sein. Sie dürfen m.E. aber aber auf keinen Fall schikanieren oder erniedrigen. 

Kulturen mit Langzeitorientierung streben langanhaltende Lösungen und Prozesse an. Dies passt m.E. sehr gut zur in der Weiterbildung vorgestellten Art des Budo, da hier der Lernprozess zählt und nicht der schnelle Graduierungs- oder Wettkampferfolg. Diese unserem schnelllebigen Alltag entgegenstehende Ausrichtung sehe ich als sehr positiv im Hinblick auf den Do an. In diese Langzeitorientierung passt auch die Praxis der Zen-Meditation, bei der man vollkommen absichtslos einfach „nichts“ tut, bei der der Geist zur Ruhe kommen kann. 

Schließlich bleibt noch der Aspekt des Kollektivismus. Kollektivistisch geprägte Kulturen zeichnen sich durch Gruppenbildung aus. Die Mitglieder einer Gruppe unterliegen der Verpflichtung gegenseitiger Unterstützung und Hilfeleistung. Kinder wachsen in „Wir“-Begriffen auf. Menschen, die versuchen, sich von den Normen einer Gruppe zu distanzieren, fallen auf und werden sanktioniert. In Japan ist die Kultur kollektivistisch ausgeprägt. Es ist bewundernswert, mit welcher Selbstverständlichkeit nach einem Erdbeben und Taifun die Menschen mit anpacken, damit am nächsten Morgen die Züge wieder pünktlich (!) fahren und der Alltag in weiten Teilen des Landes scheinbar unbeeinträchtigt weiter geht (eigene Beobachtung nach dem Taifun Hagibis im Oktober 2019). Zusammenhalt, aufeinander Achten, Hilfeleistung und Zivilcourage sind hohe Werte, die durch Budo vermittelt werden können. Allerdings hat zu einem hohen Grad ausgelebter Kollektivismus auch seinen Preis: Burnout und Depressionen sowie das Ausleben der Abweichungen von der Norm in Subkulturen sind in Japan an der Tagesordnung. Aus dem Leben allein für die Gemeinschaft wird im Geheimen ausgebrochen, weil der psychologische Drang zur Selbstverwirklichung Raum finden muss. Die Suizidrate liegt vielleicht auch aus diesem Grund in Japan im weltweiten Vergleich auf Rang 26 (Deutschland: 42) (Wikipedia, Suzidrate nach Ländern, 2023). Der auch im Budo gelebte Kollektivismus sollte daher achtsam gelebt werden. Vor dem Ein- und Unterordnen sollte die Persönlichkeit eines Schülers oder einer Schülerin stark genug sein, um den Kampf mit dem Ego aufzunehmen und das „kleine Ich“ zugunsten der Gemeinschaft möglichst klein zu halten. Das Unterordnen sollte aus freien Stücken und mit Freude geschehen. Dies kann sich in stark ausgeprägten Hierarchien schwierig gestalten, da dann möglicherweise nicht alle Gruppenmitglieder füreinander da sind, sondern z.B. Niedriggraduierte den Höhergraduierten „zu Diensten“ sein müssen. In meinem Dojo achte ich daher darauf, dass ich mich z.B. bei anstehenden Arbeiten nicht herausnehme, sondern mich beim gemeinsamen Soji oder anderen Aufgaben beteilige. Dies ist m.E. eine deutliche Abweichung der ursprünglichen Budo-Idee, die meiner Meinung nach aber notwendig ist, um diesen Aspekt authentisch umzusetzen. Zusammenfassend sieht mein Budo unter Berücksichtigung der fünf Kulturdimensionen daher so aus: 

  • Eine Machtdistanz, die geprägt ist durch Hierarchie und Strenge bzw. Konsequenz, die aber nicht autoritär ist und ohne Willkür/Unterdrückung auskommt. Die hierarchischen Strukturen gelten für die Dauer der Übungsstunden. Abseits davon gelten die unserer Gesellschaft üblichen Respekt- und Höflichkeitsregeln. Unter den Aspekt der Machtdistanz fallen vor allem die Rollen Routinen und Regeln des Reigi.
  • Abkehr vom rein maskulinen Führungsstil! – Als Frau muss ich weiblichen Budo gehen und leben dürfen. 
  • Unsicherheitsvermeidung durch Regeln und Strukturen, die klar definiert und nachvollziehbar sind und nicht schikanieren oder erniedrigen - die vier R des Reigi (Rollen, Regeln, Routinen und Rituale) bilden hier die feste Grundlage.
  • Langzeitorientierung, die den Geist zur Ruhe bringt – hier kommen Prozessorientierung und meditative Aspekte des Budo zur Geltung 
  • Kollektivismus mit gegenseitiger Unterstützung und Hilfeleistung, die alle Mitglieder einbezieht und freiwillig und mit Freude geschieht - hierdurch ergibt sich die Möglichkeit zu wachsen, um anschließend freiwillig den Kampf mit dem eigenen Ego aufzunehmen, um dies zugunsten der Gemeinschaft klein zu halten 



Literatur: 

Kumbruck und Derboven. (2015). Interkulturelles Training (3. Aufl.). Springer Berlin / Heidelberg.

 

Scott Langley. (2014). Karate Stupid. Amazon Distribution.


Werner Lind. (2004). Der geistige Weg der Kampfkünste (5. Aufl.). Barth Verlag.


Wikipedia, Suzid nach Ländern. (2023). Abgerufen 14. März 2023, von https://de.wikipedia.org/wiki/Suizidrate_nach_Ländern