Randale im Rebellenlager
Alles begann Ende des Jahres 2006. Immer auf der Suche nach inspirierenden Karate-Lehrgängen stieß ich auf die Internet-Seite des Kangeiko vom Shindokan-Dojo Brinkum. Shidokan - hört sich ja schon mal interessant an. Brinkum (bei Bremen) ist auch nicht weit. Und Trainer sollte Schlatt sein! Schlatt hatte ich bereits einmal als "Vertretung" auf dem Gasshuku 2003 in Oberstdorf erlebt. Er hatte für einen ultra-hochgraduierten japanischen Karateprofessor, der den Weg zur Halle offenbar nicht rechtzeitig bewältigen konnte, das Aufwärmtraining gegeben und auch das eigentliche Training begonnen. An die einzelnen Übungen in Oberstdorf kann ich mich ehrlich gesagt gar nicht mehr erinnern. Bleibenden Eindruck hat bei mir allerdings Schlatts Einstellung zu Disziplin und Etikette hinterlassen: bitte nicht während der Erklär-Phasen auf dem Boden herumlümmeln, sondern entweder im Seizan abhocken oder stehen bleiben, außerdem nicht quatschen sondern immer Sanshin! Wow - der Geist des Samurai!
Glücklicher Weise konnte ich meine Freundin Heide überreden, mich zu begleiten. Pünktlich vor Beginn der ersten Einheit erreichten wir -Dank guter Wegbeschreibung auf der Homepage des Shindokan und Dank Navi- die Trainingshalle. Diese war an der Shomen-Seite nicht nur mit der deutschen und der japanischen Nationalflagge geschmückt. Es war in der Mitte der Halle auch eine Empore aus Turnkästen aufgebaut und mit rotem Tuch umhüllt worden, auf der sich Bilder von den Senseis Funakoshi, Nakayama, Ochi und Tanaka befanden. Tanaka hatte ich ehrlich gesagt zunächst nicht zuordnen können. Hinterher fiel es mir aber dann wie Schuppen aus den Haaren und ich erinnerte mich auch, über ihn erst kürzlich in der Biografie von Stan Schmidt "Die leere Hand" gelesen zu haben. Hierzu mehr später.
In der gut besuchten ersten Trainingseinheit tummelten sich Karatekas aller Graduierungen in der Halle. Die Trainingsinhalte konnten daher nicht nicht gruppenspezifisch in die Tiefe gehen, sondern bezogen sich schwerpunktmäßig auf Kihon. Hier legte Schlatt besonderen Wert auf einen stabilen Stand und darauf, dass die Kraft aus dem Bauch kommen sollte - Hara. Ist es Zufall, dass grade dieser Trainingsaspekt mich momentan so beschäftigt? Oder ist es selektive Wahrnehmung? Egal - jedenfalls war ich froh, dass ich hier mal wieder eine Einheit lang gezwungen war, mich auf meine "Mitte" zu konzentrieren und nicht darauf, was meine Arme und Beine machten. Vom Kihon war es dann ein kleiner Schritt zum Partnertraining - Gohon-Kumite. Die Einheit war nicht nur von der Graduierung her gemischt, sondern auch von der Altersstruktur der Teilnehmer her. Von einem pfiffigen kleinen Violettgurt-Mädchen, was vielleicht grade mal zehn Jahre alt war bis zum ehrwürdigen schwarzbegürtelten Karateveteranen war alles dabei. Es war daher wohl nur menschlich, dass grade bei den jüngeren Teilnehmern die Konzentration manchmal nachließ und sie sich zu kleinen Albernheiten hinreißen ließen. Hier verstand aber Schlatt keinen Spaß: "Wer im Dojo lacht, weint auf der Straße!", zitierte er Saeki Sensei aus Kanada. Soll heißen: im Dojo konzentrieren und auf der Straße dann verteidigungsbereit sein. Witze reißen können wir dann nach dem Training. Während des Trainings betonte Schlatt immer wieder, wie wichtig es ist, sich auf seinen Partner einzustellen und rücksichtsvoll zu sein. Eindrucksvoll verdeutlichte er dies dann im "Zweikampf" mit dem kleinen Violettgurt-Mädchen: der große, starke Schlatt und das zarte Mädel! Das geht nur, wenn sie ihm vertrauen kann, dass er sie "leben" läßt. Sie hingegen muss jetzt erst Recht zeigen, dass sie einen starken Kampfgeist hat. Yake saka war das Stichwort. Das bedeutet: Die Trainingspartner schließen einen Vertrag miteinander - sie vertrauen sich gegenseitig, dass der jeweilige Partner nicht zu fest schlägt und den anderen nicht verletzt. In diesem Zusammenhang wurde uns die Bedeutung des Begriffs Kumite erklärt, dessen Bestandteil "Kumi" Gruppe bedeutet. Kumite ist demnach nicht Freikampf bis aufs Blut, sondern einfach "Training in der Gruppe".
Den ersten Abend ließen wir dann in einer größeren Gruppe beim Griechen ausklingen, wo es auf Kosten des Hauses Ouzo für alle gab. Hier lernte man sich dann untereinander etwas näher kennen. Ich war überrascht, dass sogar jemand aus Konstanz angereist war!
Glücklicher Weise bin ich ja mittlerweile Übernachtungen in Turnhallen gewohnt und konnte mich daher nach einer entspannenden Nachtruhe am nächsten Morgen auf mein Frühstück freuen. Dies wurde von den unermüdlichen Helfern des Shindokan in einer Cafeteria auf der anderen Straßenseite angerichtet. Also: besser gehts nicht!
Zweite Einheit. Jetzt nur Oberstufe. Kihon, Kata, Kumite - das volle Programm. Die Halle war wieder gut voll, obwohl die Unterstufe nicht dabei war. Im Wechsel liefen wir Grundschul-Bahnen und Kata-Runden. Schlatt bat uns, das am Tag zuvor erarbeitete nicht zu vergessen - stabilen Stand und Hara. Wir sollten jetzt aber das Kumite "tanzen" und die Kata "kämpfen". Hier wurde uns einiges abverlangt, denn die Kata hieß Gangaku! Es war ein tolles Gefühl, auf diese Art und Weise quasi in verschiedene Rollen zu schlüpfen - Tänzer und Kämpfer!
Mittags sollten wir nicht einfach relaxen. Es war ein Mondo angekündigt. Klar, was ein Mondo ist, wusste ich schon: ein Gespräch des Meisters mit dem Schüler (ursprünglich: des Zen-Priesters mit seinem Schüler). Aber ehrlich gesagt hatte ich noch nie ein "offizielles" Mondo geführt - weder als Schülerin, noch als Meisterin. Irgendwie hatte ich mich jetzt auf eine feierliche Versammlung im Seizan in der Turnhalle eingestellt - zumal doch Schlatt so viel Wert auf Etikette legt. Hier überraschte er mich aber wieder: Wir sollten uns zwanglos und in "Zivil" in der Cafeteria einfinden. Zur Einführung gab es eine Erklärung des Begriffs Kangeiko. Kan heißt kalt und keiko ist das "Üben einer Kunst". ein Kangeiko ist demnach kein "Lehrgang", sondern einfach das Üben traditioneller Künste im Winter. Im Gegenteil dazu ist Fußballtraining ein "rensho", also "nur" Training, keine Kunst. Achso!
Es folgte eine höchst interessante Frage- und Antwortrunde mit Schlatt, der als "Weltreisender in Sachen Karate" unglaublich spannende Geschichten aus aller Welt erzählen kann. Karate ist auf jeden Fall international, alle Karatekas sind "one big family". Im Ausland kann man sich problemlos mit und durch Karate verständigen, auch wenn man die Sprache des anderen nicht versteht. Karate als Code der zwischenmenschlichen Beziehungen - wunderbar!
Wie ich oben schon erwähnte, hatte ich grade erst das Buch von Stan Schmidt wieder einmal durchgelesen und zugeklappt. Die vielen interessanten Beschreibungen des südafrikanischem Meisters wurden durch Schlatts Erzählungen neu belebt. Ich hatte fast das Gefühl, selber bei Schlatts Erlebnissen dabei gewesen zu sein - in Südafrika, im Dojo von Keith Geyer und seinen Freunden (darüber stand auch ein toller Artikel in einem JKA-Magazin) - in Japan, im Honbu-Dojo. Nun erzählte er auch einige Geschichten der "großen Senseis", u. a. auch von Tanaka. Anlässlich eines Lehrgangs wies dieser einige Sempais an, 1000 Maegeris über einen Stuhl zu treten. Es stellte sich hinterher heraus, dass dies "zufällig" jene Sempais waren, die am darauffolgenden Nachmittag seine Golfgegner sein sollten - nach den vielen Geris hatten sie natürlich gegen Tanaka keine Chance mehr! Schlatts Sempais trugen zumeist Sweat-Shirts mit dem Vereinsnamen Ryozanpaku. Die Bedeutung sollte nach dem Mondo für uns kein Geheimnis mehr sein - Ryozanpaku heißt Rebellenlager! Und ein wenig fühlten wir uns wohl alle wie in einem Rebellenlager - oder zumindest wie bei einem Pfadfinderlager, wie kleine Kinder, die mit vor Aufregung geröteten Wangen und kullergroßen Augen den spannenden Geschichten des Lagerleiters nachts am offenen Feuer lauschten!
Die dritte Trainingseinheit wurde wieder für alle Graduierungen gemeinsam durchgeführt. Nun sollten wir -im Gegensatz zu der vorherigen Einheit- die Kata tanzen und das Kumite kämpfen. Schlatt beobachtete uns ganz genau und "erwischte" auch mich wieder dabei, wie ich beim Kumite eine zu angespannte Körperhaltung hatte. Wir sollten aber locker bleiben, uns vorstellen, dass wir je ein rohes Ei in der Achselhöhle hätten! Dann hieß es noch ein paarmal "1,2,3 Kamae" und auch diese Einheit war geschafft.
Anschließend lockte die versprochene Lehrgangsfete. Zunächst gab es ein zünftiges Chili in der Cafeteria und schon einmal das ein oder andere wohlverdiente Bierchen dazu. Dann sollte es wieder rüber in die Trainingshalle gehen - diese war jedoch nicht wieder zu erkennen! Sie war inzwischen in zwei Räumlichkeiten unterteilt. In der hinteren Hälfte hatten schon einige Lehrgangsteilnehmer damit begonnen, Schlafgelegenheiten auszubreiten. Die dicken blauen Matten, auf die alle zwecks bequemer Nachtruhe schon ein Auge geworfen hatten, waren aber im vorderen Teil der Halle schon zu großen Chill-Out-Zonen angeordnet. Überhaupt war die gesamte Hall mit viel Liebe zum Detail hübsch geschmückt und nicht wieder zu erkennen. Wer von uns jetzt aber Abrocken und sinnlosen Alkoholgenuss erwartet haben sollte, wurde erneut überrascht. Dojoleiter Dennis Albrecht hatte einen ruhigen und fast beschaulichen Feier-Abend geplant. Obwohl es mich ja zugegebener Maßen in den Beinen juckte und ich gerne das Tanzbein geschwungen hätte, war es auch so ein sehr schöner und geselliger Abend. Neben vielen interessanten Gesprächen gab es auch handgemachten irischen Gitarrenfolk. Superspät wurde es nicht und ich schätze mal so gegen 2 Uhr lagen die meisten im Schlaflager. Dennis hatte für alle Teilnehmer, auch für die vor Ort wohnenden Dojomitglieder, für diesen Abend eine Übernachtung in der Halle angeordnet, was natürlich das Gemeinschaftsgefühl förderte.
Morgens früh um 8 Uhr hieß es dann "alle antraben zum Morgenlauf". In gemäßigtem, für alle machbarem Tempo ging es dann durch die frische Luft. An einer Wegkreuzung wurden dann, als eventuelle Nachzügler aufgeschlossen waren, einige Tsukis im Stand gemacht. Nach dem Frühstück gab es dann die letzte Trainingseinheit, die von allen gemeinsam absolviert wurde. Die Unterstufe wurde hier hart gefordert, weil hier überwiegend Oberstufenkatas gefragt waren.
An dem dann anschließenden Saunabesuch nahmen wohl nur wenige Trainingsteilnehmer teil, da viele doch die zeitige Abreise bevorzugten. Da das Kangeiko in Brinkum aber zur festen Institiution werden soll, ist schon jetzt abzusehen, dass die "Sauna-Einheit" im nächsten Jahr an einem der anderen Abende stattfinden soll.
Ganz besonders erwähnen möchte ich unbedingt das herausragende Engagement von Sensei Dennis Albrecht. Obgleich er mit seinen 31 Jahren für einen Dojo-Leiter noch recht jung ist, konnte er seine Dojo-Mitglieder alle unglaublich motivieren und hat für eine perfekte Organisation gesorgt. Allein schon so eine "ungewöhnliche" Lehrgangsfete mit "Zwangsübernachtung" in der Halle zu planen, das hätte sich wohl nicht jeder getraut. Hut ab!
Also: ich werde nächstes Jahr ganz bestimmt wieder dabei sein, wenn es heißt "Kangeiko mit Schlatt in Brinkum".
Oss, Icky
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