Unser Karateverband hat
jährlich zwei ganz große Trainings-Events anzubieten – neben dem Gasshuku,
welches regelmäßig Anfang August stattfindet, gibt es mit dem Kata Special
Course noch eine Veranstaltung, die sich an dem verlängerten Wochenende um
Christi Himmelfahrt herum ausschließlich mit der Trainingsform Kata
beschäftigt. Wie auch beim Gasshuku wechseln die Austragungsorte jährlich und
stets werden recht malerische Orte oder Orte, die auch für mitreisende Familien
einen besonderen Freizeitwert besitzen, ausgesucht. In diesem Jahr war –
bereits zum 10. Mal – Groß Umstadt im Odenwald Ort des Geschehens. Natürlich
hatten auch Torsten und ich uns im Vorfeld Lehrgangskarten gesichert und eine
Unterkunft reserviert. Aus organisatorischen Gründen reisten wir diesmal
getrennt an, was sich im Nachhinein als sehr günstig erwies.
Unsere
Unterkunft, das Gästehaus Regina, ist – naja, ich würde mal sagen: bedingt zu
empfehlen und vor allem für Trainierende mit schmalem Geldbeutel günstig, die
auch einen kurzen Weg zu den Trainingshallen wünschen. Ansonsten muss man schon
ein Fan skurriler Baukunst und gefliester Schlichtheit sein, die vergeblich versucht, ihren
Ausgleich durch recht schrille Wanddekorationen zu suchen. Ganz
erstaunlicher Weise gewöhnte ich mich aber doch nach einer Weile an die
Unterkunft, die mir zum Abschied beim Bezahlen mit einer recht günstigen
Rechnung wie zur Versöhnung die Hand reichte.
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Zauberhafte Wanddeko im Gästehaus Regina |
Groß Umstadt ist ein
nettes Örtchen mit einer umfangreichen Gastronomie – an jeder Ecke gibt es ein
Restaurant, ein Eiscafé oder ein Bistro. Langeweile kommt so zwischen den
Trainingseinheiten nicht auf und man trifft ja auch alle Nase lang Menschen in
Karate-Gis, mit denen man in alten Zeiten schwelgt, oder die man neu kennen
lernt.
Nachdem Torsten und ich
den ersten Abend bei gutem Essen und einem Glas Wein hatten ausklingen lassen,
ging am nächsten Morgen um sehr angenehme 10 Uhr das erste Training für uns
los. Nach dem Motto „das Beste kommt zuerst“ hatten wir direkt 90 Minuten
Training bei unserem „Chef“, Shihan Ochi. Ich kann nicht sagen, woran es liegt,
aber die Trainings bei Ochi Sensei begeistern mich immer mehr! Ich hatte in den
vergangenen Wochen mehrfach die Gelegenheit, in seinem Dojo in Bottrop
trainieren zu dürfen und konnte auch zwei Einheiten unter seinen Anweisungen
beim Instructor-Lehrgang in Bochum genießen. Auch der Lehrgang mit unserem
Chief Instructor in Münster war für mich ein spitzenmäßiges Erlebnis und das vor einigen Wochen in Dresden stattfindende Karate-Seminar Takudai (Ochi Sensei mit Naka Sensei und anderen Großmeistern, die zum Teil schon zu Lebzeiten wahre Karate-Legenden sind!) gehört für mich in die erste Liga der Karate-Events überhaupt. Es sind
Trainings mit einem hohen Anspruch an die Konzentration und Koordination – sei
es durch eine Abwandlung im klassischen Kumite oder durch neue und
längere Kihon-Variationen – manchmal sind es nur Nuancen, die die gewohnten
Bewegungsmuster aufbrechen und zu etwas Neuem werden lassen. Es ist immer empfehlenswert, in diesen Trainings
besonders gut zuzuhören, sonst kann es schon einmal eine liebevolle Kopfnuss
setzen oder es wird einem symbolisch der Schwarze Gürtel abgenommen. Ochi
Sensei startete mit einer der höchsten Katas unserer Stilrichtung, der
Gojuishiho Scho. Neunzig Minuten lang scheuchte uns der Karate-Großmeister
durch die Halle und sorgte für einen fulminanten Start des
Karate-Großereignisses!
Auch am Nachmittag wurde
die Gruppe ab 2. Dan hinsichtlich der Trainingszeiten verwöhnt: Unsere zweite
Einheit begann um 14.30 Uhr und war um 16.00 Uhr beendet, so dass noch genügend
Freizeit für Gespräche, Ausflüge oder Entspannung blieb. Am ersten Tag ging es
gleich hochkarätig weiter mit Training bei Sensei Toribio Osterkamp und einer
meiner Lieblingskatas: Sochin! Sensei Toribio überraschte uns mit abgewandelten
Kata-Sequenzen, aus denen heraus er mit uns eine anspruchsvolle
Bunkai-Übung erarbeitete. Ich kann mir vorstellen, dass diese Übung auch mit
bis zu fünf Trainierenden funktioniert. Vermutlich wollte Toribio uns das
Training aber erleichtern und hat uns die Sequenz daher zu zweit ausführen
lassen, wobei jeweils einer den Part des Uke inne hatte, der andere von
verschiedenen Seiten aus angreifen musste. Hier wurde mein Kampfgeist geweckt
und am Ende hatte ich in meiner Vorstellung all meine Gegner zur Strecke
gebracht – auch wenn ich manchmal in der Hitze des Gefechts rechts und links
verwechselte oder eine ganz neue Technikvariante einbaute. Natürlich führten
wir auch die Kata mehrfach aus und gingen dann glücklich-erschöpft in den
Nachmittag.
Der zweite Trainingstag
begann dann nicht so schön, da Torsten krankheitsbedingt abreisen musste. Ein
Kata Special ohne meinen „Kata-Mann“ konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen
– nichts desto Trotz machte ich mich tapfer auf zur ersten Einheit: Nijushiho mit unserem
National Coach Sensei Thomas Schulze. Sein Fokus lag – wie auch schon beim Samurai Spirit Seminar in Siegen – auf Techniken mit viel Spannung und
tiefer Basis – dies muss nicht zwingend bedeuten, tiefer zu stehen, aber wir
sollten eine stabile Mitte haben und viel Kraft aus dem Hara generieren. All
dies wurde gepaart mit einer Lockerheit im Oberkörper und heraus kam eine
kraftvolle, dynamische und explosive Nijushiho! Ein super Training, ein
motivierender Trainer und eine auf diese Art auch für mich schöne Kata. Ein
bisschen wehmütig dachte ich zwischendurch daran, wie sehr mit Sicherheit auch Torsten diese
Einheit gefallen hätte, da die Nijushiho zu seinen
Kata-Favoriten gehört!
Sensei Julian Chees ist
immer ein Garant für exquisites Kata-Training! So freute ich mich schon sehr
auf seine Einheit am Nachmittag. Es stand die anspruchsvolle Gojushiho Dai auf
dem Programm, die, wenn man sie nicht (wie schon einmal bei einem
Chees-Lehrgang in Münster geschehen) „ura“ ausführt, für eine extreme
Kräftigung des linken Oberschenkels sorgt. Wir begannen mit der wohl schwierigsten
Stellung der Kata: der Wendung im Neko Ashi Dashi. Julian Sensei riet uns, die
Wendung aufzuteilen und zunächst den hinteren Fuß zu drehen, um für Stabilität
zu sorgen. Es gab zahlreiche weitere Tipps und Basisübungen – aber was wäre ein
Kata-Training bei Julian, wenn es nicht auch kniffelige Bunkai-Sequenzen hätte?
So übten wir zu dritt und beherzt eine Anlehnung an die Starttechnik der Kata –
Backpfeifen inklusive :-)
Leider wurde das
Training gut fünf Minuten vorzeitig abgebrochen, als wir grade mit einer
zweiten Bunkai-Übung begonnen hatten, die wir so leider nicht vertiefen konnten: Unser DJKB-Präsident nutzte das Ende der
Einheit dazu, dem Ausrichter des Groß-Umstädter-Lehrgangs für seinen Einsatz zu
danken und überreichte ihm eine Urkunde. Eine mit Sicherheit verdiente Ehrung,
aber meiner Meinung nach hätte diese besser im Rahmen einer Lehrgangsfeier
vorgenommen werden können – so wären nicht nur die Trainierenden der Gruppe ab
2. Dan Zeuge der Laudatio geworden und wir hätten noch ein bisschen mehr vom
Training bei Julian gehabt.
Den Nachmittag verbrachte
ich dann alleine mit einem Mix aus Kultur und Wellness – sprich: Ich holte das
nach, was Torsten und ich eigentlich am Vortag gemeinsam hätten unternehmen
wollen. Also machte
ich mich alleine auf die Suche nach der Ausgrabungsstätte der römischen Villa
Haselburg und bestaunte bei herrlichstem Sonnenschein die Relikte aus alten
Zeiten. Auf dem Weg dorthin war ich ich bereits eher zufällig auf die Veste Otzberg gestoßen, eine
mittelalterliche Burgruine, und konnte auch hier ehrfurchtsvoll durch die
alten Gemäuer spazieren. Schließlich hatte ich mir dann eine Erholung in der
Odenwaldtherme verdient – eine kleine, aber feine Saunalandschaft im
beschaulichen Ort Bad König, in der mich vor allem die vierteilige Aufgussprozedur
namens „extra heiß“ kreislaufmäßig vollends forderte.
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Burgruine Veste Otzberg |
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Römische Villa Hasenburg (Ausgrabungsstätte) |
Gut erholt sprang ich am
nächsten Morgen dann bereits um 7 Uhr aus den Federn, um die Einheit bei Shihan
Omura um 08.30 Uhr mitzunehmen. Über den charismatischen Nationaltrainer
Thailands hatte ich über meine Senseis Michael Jarchau und Andreas Klein schon
viel Beeindruckndes gehört und so war ich sehr gespannt auf sein Training der Kata
Gankaku! Ich hatte mich zu diesem Zweck der Gruppe bis 1. Kyu angeschlossen.
Nach
dem Aufwärmen durch einen jungen Braungurt begann der Shihan direkt mit sehr
anspruchsvollen Kihon-Kombinationen, bei denen es ihm vor allem auf den
korrekten Hüfteinsatz ankam. Offensichtlich sah er bei uns hier noch einen
erhöhten Trainingsbedarf – und er ging vielleicht auch davon aus, dass der
Ablauf der Schwarzgurtkata, die das Bild eines Kranichs auf dem Felsen
symbolisiert, schon bekannt ist. Jedenfalls verblieb für das eigentliche
Kata-Training leider nur eine knappe halbe Stunde.
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Omura Sensei auf den Plakat des diesjährigen Kata Special |
Zu Demonstrationszwecken
suchte Omura Sensei einen fortgeschrittenen Karateka, der die Kata bereits
beherrscht. Seine vortreffliche Wahl fiel auf Jakob Schmidt, der mit einer
bewundernswerten Leichtigkeit und Akkuratesse Technik für Technik ausführte und
sich dafür einen dicken Applaus verdiente! Das war Karate auf allerhöchstem Niveau
und hinterließ einen optimalen Eindruck davon, wie die Kata aussehen kann! Wir
anderen versuchten uns dann anschließend an der Ausführung der Kata, die über einige
anspruchsvolle Drehungen und Wackelgefahr bergende Einbein-Stände verfügt.
Insgesamt hätte sich wohl der Großteil der Gruppe noch eine weitere Vertiefung
der Kata gewünscht – manchmal sind 90 Minuten einfach zu kurz – vor allem, wenn
man das seltene Vergnügen hat, bei einem der im Ausland lebenden, japanischen
Großmeister zu trainieren. Mir persönlich hat es sehr gut gefallen, dass der
Shihan den Unterricht auf Englisch und ohne Übersetzung abhielt. So werden
unnötige Trainingspausen verhindert und viele Aspekte lassen sich – mal
abgesehen davon, dass Englisch den meisten Trainierenden geläufig ist – ja auch
durch Zusehen und Nachahmung erkennen und ableiten.
Da ich bereits am späten
Samstagnachmittag abreisen musste, hatte ich mir als letzte Einheit und
weiteren Höhepunkt eine weitere Einheit in der Gruppe bis 1. Kyu ausgesucht: Chinte bei dem von mir sehr geschätzten Sensei Jean-Pierre Fischer. Der aus
Frankreich stammende und heute in Luxemburg lebende Kata-Spezialist ist seit
langem einer der Lieblingstrainer von Torsten und mir. Für ihn nahmen wir sogar
vor etwa vier Jahren die Strapazen einer langen Autofahrt nach Crosne bei Paris auf
uns und wurden dort mit einem erstklassigen Lehrgang bei ihm und seinem langjährigen
Trainingspartner Jean-Michel Blanchard belohnt! Jetzt also mein aktueller
Kata-Favorit Chinte bei Jean-Pierre – ich war sehr gespannt! Nach dem von Jean-Pierre
persönlich ausgeführten Aufwärmtraining begannen wir mit Kihon-Übungen, bei
denen der Sensei uns aufforderte, möglichst stabil und tief zu stehen. Vor
allem bei Schritt- oder Stand-Wechseln sollten wir den Schwerpunkt auf einer
Höhe lassen. Dies brachte natürlich ruckzuck unsere Oberschenkel zum Brennen
und sorgte für eine gute Trainingsvorbereitung. Anschließend gab es – viele
kannten es schon von dem Wahl-Luxemburger – verschiedene Sequenzen der Kata
„auf der Stelle“, also lediglich die Armtechniken und Kicks der Kata aus dem Shizen Tai
heraus. Schließlich fügten wir Stände und Techniken zusammen und führten die
Kata Stück für Stück aus. Der Sensei ließ es sich nicht nehmen, uns umfassend
zu korrigieren und da er meine Vorliebe für die Kata kannte, durfte auch ich
vor der Trainingsgruppe eine Sequenz vorführen. Leider stießen die Feinheiten,
die ich mir in den letzten Wochen und Monaten für die Chinte angeeignet hatte,
bei Jean-Pierre nicht vollumfänglich auf Gegenliebe und so gab es zahlreiche
Änderungswünsche, die mich zum Teil irritierten. Ich werde in den nächsten
Wochen daran arbeiten, mir hier eine korrekte und zu
mir passende Ausführungsversion zu überlegen.
Nachdenklich und etwas
weniger euphorisch als zwischen den übrigen Einheiten trat ich den Heimweg an.
Die vergangenen Tage waren ein Mix aus Technik und Kampfgeist, Ausführung und
Partnertraining, Bekanntem und Neuem, Sicherheit und Zweifel – sechs
eindrucksvolle Trainings, nicht immer nur in der eigenen Wohlfühlzone. Ich
denke, so muss Karate sein, denn wie sagte mein Sensei Risto einst so schön?
„Karate fängt dann an, wenn die Selbstzweifel schneller wachsen, als das
Können.“ Oss.
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