Montag, 6. Juni 2016

Gefahrenradar bei Rock am Ring

Als Selbstverteidigungstrainerin beschäftige ich mich seit geraumer Zeit mit dem Begriff des Gefahrenradars. In meinen Seminaren vermittele ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, eine gelassene Wachsamkeit an den Tag zu legen, sobald sie sich außerhalb der eigenen vier Wände befinden. Werden ungewöhnliche Umstände wahrgenommen, soll auf das Bauchgefühl gehört und der Gefahr möglichst noch aus dem Weg gegangen werden.

Dieses Prinzip des Gefahrenradars bzw. der gelassenen Wachsamkeit kennnen Karateka auch als "Zanshin" - dieser Begriff beschreibt eine Wach- und Aufmerksamkeit, die bereits vor Beginn einer Übung beginnt und über das Ende hinaus gehen soll. Oder, um es mit den Worten Toribio Senseis zu sagen: Es handelt sich um situationsübergreifende Wach- oder Achtsamkeit.

Abseits des Karatetrainings wurde mir das Prinzip erstmals ganz konkret von meinem Coach Ralf Bongartz vermittelt: In der Ausbildung zur Fachpädagogin für Konfliktkommunikation erfuhr ich vom Gefahrenradar, vom Ausschalten ablenkender Faktoren (Smartphone etc.) im Alltag und auch hier von der Wahrnehmung feinster Faktoren, die für eine gefährliche Situtation sprechen könnten. Auch das Street-Combatives-Programm beinhaltet diese Prinzipien und vermittelt z. B. die verschiedenen Aufmerksamkeitsstufen aus dem Cooper Color Code.

Mit Bedauern stelle ich häufig fest, dass es mit der Wahrnehmung potenziell gefährlicher Situationen bei vielen Menschen nicht weit her ist. Wie kommt das? Haben wir uns schon so daran gewöhnt, die Verantwortung für unsere Sicherheit und unser Handeln an andere Institutionen (Eltern, Lehrer, Staat...) abzugeben, dass wir nicht mehr eigenverantwortlich agieren können? Sind wir schon so "programmiert", dass wir uns z. B. eher auf die Angaben in einer Wetter-App verlassen, statt mal aus dem Fenster zu sehen? Leben wir schon zu sehr in computer-animierten Schein-Welten, in denen man sich nach Bedarf mehrere "Leben" kaufen kann?

Anfang des Jahres las ich speziell in sozialen Medien häufig Aussagen wie:"Ich sehe das gar nicht ein, dass ich als Frau nachts nicht mehr alleine auf die Straße gehen soll." Oder: "Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, mit "angezogener Handbremse" zu feiern und meinen Alkoholkonsum zu zügeln, nur damit ich noch im Falle eines Übergriffs angemessen reagieren kann." Das sind sicherlich ganz persönliche Einstellungen und das kann ja auch jede/r für sich selbst entscheiden. Allerdings finde ich es dann konsequent, wenn man dann auch für sich selbst die Verantwortung übernimmt.

Was mich jetzt aktuell allerdings sehr erschrocken hat, waren die Ereignisse rund um den Abbruch des Mega-Events "Rock am Ring". Bereits in den Tagen vor Beginn des Musik-Festivals waren in Deutschland schwerste Unwetter niedergegangen, die zum Teil komplette Ortschaften verschüttet hatten. Auch zu Beginn des Festivals gab es Unwetterwarnungen. Ich kann es gut verstehen, dass man nicht bei jedem Gewitter gleich eine ganze Veranstaltung absagen möchte und darum war es mit Sicherheit vertretbar, zunächst mit dem Event zu beginnen. Leider gab es bereits am ersten Abend einen Blitzeinschlag mit über 70 verletzten Personen, zwei davon mussten sogar reanimiert werden. Ich gehe davon aus, dass die Veranstalter am nächsten Tag sorgfältig abgewogen hatten, bevor sie sich dazu entschlossen, die Konzerte fortzuführen. Abends mussten dennnoch wegen weiterer Unwetter die Veranstaltung unterbrochen werden. Am dritten Tag entzog dann die Gemeinde Mendig letztlich "Rock am Ring" die Veranstaltungs-Erlaubnis und der dritte Tag fiel aus. Sicher - sehr bedauerlich für die Bands, für die Veranstalter und sicher auch für die Gäste, die zum Teil 200 Euro für die Karten bezahlt hatten.

Aber....jetzt zum Gefahrenradar: Wenn doch ganz offensichtlich um mich herum grade die Welt untergeht und der Veranstaltungsort bereits so in Regen und Schlamm versackt ist, dass die Autos zum Teil schon mit Traktoren aus dem Sumpf gezogen werden müssen, die Zelte zerstört sind und es bereits zu zahlreichen verletzten Personen gekommen ist - sollte da nicht auch allmählich bei den Gästen mal das Bauchgefühl sagen, dass die Situation langsam gefährlich wird? Dass die aktuelle Wetterlage nicht nur leichte Sommergewitter im Gepäck hat? Und selbst WENN die Gäste vielleicht im Partyrausch die Brisanz des Unwetters nicht realisieren - dann sollten sie doch spätestens nach Abbruch der Veranstaltung ohne zu klagen nach Hause fahren und nicht noch nach "Verantwortlichen" suchen, von denen sie ihr Eintrittsgeld zurück bekommen. Was, wenn es am dritten Tag zu weiteren Überflutungen, zu weiteren Blitzeinschlägen gekommen wäre? Wäre dann nicht der Aufschrei und die Suche nach Verantwortlichen groß gewesen? http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-06/rock-am-ring-rockfestival-eifel-unwetter-abgebrochen

Vielleicht müssen wir das wirklich wieder lernen. Unsere Umgebung wahrzunehmen. Gefahren zu erkennen. Auf das Bauchgefühl zu hören. Und an den Himmel zu schauen, statt auf die Wetter-App.

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