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Fußmatte am Eingang meines Dojos |
Seit über 30 Jahren praktiziere ich die Kampfkunst Karate. Die Budo-Prinzipien sind so stark mit meinem Leben verbunden, dass sie zu mir gehören wie ein Körperteil oder wie meine Familie. Ich bin quasi damit aufgewachsen, dass man im Training keine Fragen stellt (allenfalls im persönlichen Gespräch anschließend), dass während des Unterrichts das gemacht wird, was der oder die Sensei vorne sagt. Dass ich mein Ego zurücknehme, schweige, schwitze, Schmerzen ertrage.
In den letzten Jahren habe ich verschiedene Fortbildungen absolviert – darunter eine Ausbildung an der Gewaltakademie Villigst und mehrere Bildungsgänge mit systemischem Hintergrund. Hier kamen häufiger Denkansätze und Forderungen zur Sprache wie: „Man darf niemanden zu etwas zwingen“, „Erziehung auf Augenhöhe“, „man muss immer Nein sagen dürfen“ etc. Wenn ich dann entgegnet hatte: „Ja, aber grade manchen Kindern, die Lernschwierigkeiten haben oder die als schwierig im Umgang mit anderen Kindern, ihren Eltern, LehrerInnen sind, tut der Karateunterricht richtig gut – in einem Unterricht, der häufig genug hierarchisch ist, keine Widerrede duldet, in dem das Ego klein gehalten ist“, dann kam da durchaus eine positive Resonanz wie „Ja. ja, die Kinder brauchen ja auch feste Strukturen.“ oder: „Die kennen ja von zu Hause aus keine Regeln und lernen sie im Dojo“ etc. pp. Auf den Widerspruch, der zwischen dem häufig geforderten demokratischen Lebens- und Erziehungsstil und dem Unterricht in einem Dojo besteht, wurde aber gar nicht eingegangen und der blieb auch für mich bisher weitgehend ungeklärt. Ganz aktuell brachte mich meine Tochter, die Soziale Arbeit studiert, erneut auf den Widerspruch. So ein Umgang, bei dem die Trainierenden widerspruchslos akzeptieren müssten, was der Trainer oder die Trainerin sagen, ein Training über die eigene (Schmerz)Grenze hinaus bis die Training kommen oder einem vor Erschöpfung die Kotze bis zum Zäpfchen steht - so etwas wäre für sie und vermutlich auch ihre Kommilitonen nicht denkbar! Hm.
Also dachte ich wieder nach – darüber, wie ich leben möchte und wie ich trainiere bzw. Training gebe und mein Dojo leite. Ich schätze die demokratische Gesellschaftsstruktur, in der wir leben und fordere im Dojo Verneigung und Gehorsam. Wie passt das zusammen? Ein Erklärungsversuch.
Kampf statt Konsum
Karate hat einen kämpferischen Hintergrund. Sieht man das in China liegende Shaolin Kloster als Keimzelle unserer Kampfkunst, so wurde eine Urform des Karate zunächst in einer streng-klösterlichen Umgebung entwickelt und gelebt. Zudem wurde in den 1930er Jahren Karate im japanischen Militär verwendet. Allein diese Umstände machen deutlich, warum ein rauer Befehlston beinahe naturgemäß zum Karate gehört. Ebenfalls ergibt sich hieraus, warum im Dojo eine Hierarchie gelebt wird, bei der der oder die Sensei quasi autokratisch den Ton angibt. Auch wenn diese Lern- und Trainingsstruktur im Zeitalter der Schnelllebigkeit und des Konsums antiquiert erscheint, so bietet sie gleichzeitig doch einen festen und verlässlichen Rahmen für die Beteiligten. An dem Begriff Kampf mögen pazifistische Gemüter Anstoß nehmen - in einem verantwortungsbewussten Karate-Dojo mit traditioneller Ausrichtung wird der Kampf jedoch ohne Zeichen von Aggressivität gelehrt und geübt: An erster Stelle steht der stete Kampf gegen sich selbst, gegen die eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten. Erst dann ist auch ein Zweikampf möglichKonformität statt Individualität
Im Alltag versucht wir vermutlich alle, unsere Individualität auszuleben - sei es in der Kleidung oder anderen Ausdrucksformen. Im Karate ist bereits die Kleidung weitgehend vorgegeben: Ein (weißer) Anzug soll es sein, möglichst ohne auffällige Abzeichen oder andere abhebende Merkmale. Um den Bauch hält ein Gürtel die Kleidung zusammen, der durch eine spezielle Färbung den Fortschritt der oder des Karateka zeigen kann. Warum ist es für Menschen so reizvoll, sich in ihrer Freizeit einen einheitlich weißen Anzug anzuziehen? Bereits die kleinen Kinder können es gar nicht erwarten, bis sie das Trikot ihrer Lieblingsfußballmannschaft oder ihren Lieblingspullover gegen einen kleinen Karateanzug eintauschen dürfen. Irgendwie beschleicht mich gelegentlich ein ungutes Gefühl bei der Vorstellung, dass Menschen sich immer noch oder wieder darüber freuen, sich mit anderen "gleich" zu machen! Das kam doch in der Geschichte schon oft genug vor - und häufig nicht mit gutem Ausgang! Warum ist es dann doch immer wieder reizvoll, sich durch Kleidung und Verhalten zu "uniformieren"? Vermutlich ist es immer wieder das gute und irgendwie beruhigende Gefühl, "dazu zu gehören". Gleichfalls bietet die gleiche äußere Erscheinung die Möglichkeit, finanzielle oder soziale Unterschiede aufzulösen: Der Karateanzug für Kinder hat immer dieselbe Qualität und denselben Preis - ganz egal, aus welchem Elternhaus die Kinder kommen. Dies kann helfen, Vorurteile abzubauen bzw. gar nicht erst entstehen zu lassen. Statussymbole aller Art haben im Dojo keinen Platz - selbst Uhren oder Schmuck müssen abgelegt werden. Im Dojo und im Karateunterricht hat dies durchaus eine befreiende, entlastende Wirkung - niemand kann sich durch Äußerlichkeiten hervortun. In der Arbeit, im Bemühen sind wir alle gleich, egal woher wir kommen. Zudem lenkt kein äußerlicher Schnickschnack von unserem Karate-Do ab - alle sehen gleich aus - wir können uns voll und ganz auf unseren Do konzentrieren.Bescheidenheit statt Selbstdarstellung
"Deru kui wa utareru" - der Stock, der herausragt, wird niedergeschlagen, so besagt es ein altes japanisches Sprichwort. Was hart klingt, ist zumindest in der japanischen Kultur an der Tagesordnung: Es ist besser, sich unterzuordnen, als herausragen zu wollen. Sehr unmodern erscheint diese Einstellung zunächst und sie scheint so gar nicht zu dem modernen, westlichen Lebensstil zu passen, bei dem die Selbstdarstellung via facebook, twitter und instagram beinahe kein Ende nimmt! Andererseits kann dieser Drang zur Selbstdarstellung auch zur Oberflächlichkeit und zur zu starken Konzentration auf Äußerlichkeiten verkommen, die zudem einen sehr großen Stress verursacht. Nicht wenige Menschen suchen daher immer wieder Zuflucht in einer klösterlichen Atmosphäre, meditieren, reduzieren ihre Reizimmissionen. Das Ausüben der Kampfkunst Karate (oder einer ähnlich strukturierten Kampfkunst) kann einen ganz ähnlichen Effekt haben: Das Zurücknehmen des Egos, das Aufstellen in einer Reihe (aus der niemand hervortritt oder herausragt - es sei denn, durch körperliche Länge), das uniforme Aussehen - all das kann befreien und entstressen. Die permanente Arbeit an sich selbst, an den einzelnen Techniken mit dem Wissen, dass der Weg der Vervollkommnung niemals enden wird, lehrt zudem Bescheidenheit, die ebenfalls beruhigt und entspannt.Leere statt List
Im Alltag sind wir häufig umgeben von Vorteilsnahme, Schummeleien, Betrug und List: Menschen, die in Eile sind, drängeln sich an der Kasse vor oder nötigen im Straßenverkehr - PolitikerInnen werden des Wahl- oder Spendenbetrugs überführt, Geschäftsleute schummeln bei der Steuerabgabe. Ein Leben ohne Hinterlist scheint naiv und zwecklos zu sein. Gedanken kreisen häufig mehr darum, wie möglichst trickreich ein Betrug durchgeführt werden kann, als dass sich auf die tatsächliche Arbeit konzentriert wird. Beim Karate-Training ist dies nicht möglich. Zumindest wäre ich noch nie auf die Idee gekommen, mir hierüber in irgendeiner Form Gedanken zu machen. Der eigene Vorteil kann in einem Karatetraining allenfalls darin bestehen, nach dem Ende der Einheit das Dojo mit einer dankbaren Verneigung zu verlassen, in dem Wissen, während des Keikos ganz im Hier und Jetzt gewesen zu sein mit einem Geist der klar und leer war und nur auf den Moment fokussiert. Für mich ist das gelebte Entschleunigung. Meditation. Zen.Stärke statt Spaß
Der Zeitgeist fordert beinahe permanente Bespaßung. Alles muss lustig sein, leicht und mühelos von der Hand gehen - Widerstände werden umgangen, statt sie zu bewältigen. Allerdings stehen viele Menschen mit dieser Leichtigkeit des Daseins früher oder später vor unüberwindlichen Hürden oder empfinden das eigene Leben als wenig sinnstiftend und freudlos. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es es durchaus Freude machen kann, Widerstände oder Schwierigkeiten zu überwinden und je mehr man geschafft oder geschaffen hat, desto reicher wirkt der Alltag, desto mehr Vertrauen kann man in die Zukunft haben. Zudem stärkt das Überwinden von Widerständen das Selbstbewusstsein und das Vertrauen in die eigenen Kräfte. Letztlich führt genau dieses Selbstvertrauen zu einer tieferen Zufriedenheit, als es jede oberflächliche Bespaßung könnte. Und wenn man sich im Karate-Dojo durch seine Trainerin oder seinen Trainer bis an die eigenen Widerstände hat heranführen lassen, dann kann man genau dies durch das bedingungslose Vertrauen im Training erleben.Vertrauen statt Vergnügen
Aber kommen wir zurück zu dem Ausgangspunkt: Kann es sinnstiftend und vernünftig sein, sich in ein System zu begeben, das Gehorsam voraussetzt und Uniformität? Meine Antwort ist: Ja. Unter bestimmten Voraussetzungen.1. Die Teilnahme am Unterricht ist freiwillig und kann jederzeit freiwillig beendet werden.
2. Trainerinnen und Trainer sind gut ausgebildet für ein Training auf didaktisch und methodisch gutem Niveau entsprechend der jeweiligen Zielgruppe.
3. Trainerinnen und Trainer sind Vorbilder und verlangen von sich dieselbe Härte, die sie auch der Gruppe abfordern. Sie leben Respekt und Disziplin vor.
4. Das oberste Ziel des Training liegt darin, die Persönlichkeiten der Trainierenden durch einen Zuwachs an körperlicher und mentaler Kraft zu stärken.
5. Es herrscht ein vertrauensvoller Umgang - Trainerinnen und Trainer haben ein Auge auf die Trainierenden und können die Grenzen des Machbaren einschätzen.
Zusammengefasst gilt meiner Meinung nach Folgendes: Wenn sich ein Mensch dazu entscheidet, in einem Dojo zu trainieren, sollte von vornherein feststehen, das die Zugehörigkeit jederzeit wieder beendet werden kann. Zudem muss von Beginn an ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Sensei und SchülerIn bestehen. Respekt und Disziplin müssen gegenseitig gelebt werden. An vorderster Stelle steht das Ziel, das Selbstbewusstsein der Trainierenden zu stärken. Nur ein starkes Selbstbewusstsein ermöglicht es, Grenzerfahrungen zu machen, ohne zu zerbrechen. Wenn all dies beachtet wird, dann - und nur dann - kann es möglich und wertvoll sein, sich im Training bedingungslos unterzuordnen, sich von der Trainerin / dem Trainer an die persönlichen Grenzen (und ein kleines Stück darüber hinaus) führen zu lassen. Zu schweigen, zu schwitzen und Schmerzen zu ertragen.
Osu
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