Schweißtreibendes "Ommmm" mit Anando Würzburger im UTA Cologne
Es ist mir ja tatsächlich peinlich: Knapp 40 Jahre Karate und bisher hatte ich mich noch nie tiefergehend mit den Aspekten des Hara beschäftigt. Natürlich weiß ich, dass Hara das Energiezentrum des Körpers ist, dass es ca. drei Finger breit unterhalb des Bauchnabels und im Inneren des Leibes sitzt, dass man stabil und im Karate quasi unbezwingbar ist, wenn man "gutes Hara" hat. Auch dass es eine besondere Verbundenheit zur Erde durch Hara gibt, war mir bekannt. Desweiteren ist nicht nur Karateka der Begriff Harakiri (kiri = schneiden) als vor allem unter den Samurai praktizierter Freitod bekannt. Aber gezielt trainiert oder gezielt beschäftigt hatte ich mich mit dem Phänomen Hara bisher noch nicht. Es war für mich bisher ähnlich dem Heiligen Geist in der katholischen Kirche: unverzichtbar und allgegenwärtig - und gleichzeitig unsichtbar, abstrakt, nicht greifbar und irgendwie mysteriös!
Als mir im letzten Herbst das Seminar "Atmung, Erdung, Hara-Zentrierung" durch den Veranstalter UTA-Cologne, bei dem ich bereits eine andere Weiterbildung abgeschlossen hatte, vorgeschlagen wurde, wurde ich daher sehr neugierig und meldete mich an.
Und wie das dann so ist, wenn nach einigen Monaten dann der Seminartermin naht - irgendwie war es mir grade gar nicht Recht! Es lag ohnehin so viel an und zudem hatte ich auch noch eine fette Erkältung! Am Liebsten hätte ich alles abgesagt! Aber das Seminar war ja bereits bezahlt, Hotel und Zug gebucht - na komm, also raff Dich auf!
Weil das Thema Hara ja viel mit Atmung zu tun hat, griff ich mir ein vor einigen Monaten gekauftes und noch ungelesenes Buch aus dem Regal mit dem Titel "Breath". Es gestaltete die Hinfahrt ziemlich unterhaltsam mit einem Mix aus Wissenschaft und lockerer Schreibweise. Mit Hara direkt hatte das Buch nichts zu tun - aber es wurde beleuchtet, welche Bedeutung korrekte Atmung für das Wohlbefinden und die Fitness, die Gesundheit und den Alterungsprozess - ja: die Lebensdauer - hat. Hochmotivert kam ich daher im UTA an. Ich war total überrascht, dass wir knapp 30 Teilnehmende waren! Finden dieses Thema so viele Leute interessant? Das hätte ich nicht gedacht! In einer kleinen Vorstellungsrunde zeigte sich, dass viele der Teilnehmenden das Modul im Rahmen einer Ausbildung zur Meditationslehrerin/zum Mediationslehrer belegt hatten. Ich selber gestand bei meiner Vorstellung etwas eingeschüchtert mein dürftiges Hara-Wissen als Karateka ein. Fünf Leute weiter im Kreis vermeldete ein Mann, er sei auch aus dem Karate und ihm ginge es wie mir! Puh, das brachte mir Erleichterung :-) Mit dem Karateka aus Geesthacht unterhielt ich mich in den Pausen viel und ich lud ihn und Leute aus seinem Dojo zu unserem Jubiläumslehrgang im September ein.
Dann startete die unglaublich tolle Anando Würzburger das Seminar. Anando beschäftigt sich schon seit rund 40 Jahren mit Hara und mit dem Hara verknüpften Themenbereichen. Sie scheint ein ähnlicher Weiterbildungsfreak zu sein wie ich :-) Quasi ihr Lebenswerk dürfte das "Hara Awareness Konzept" sein, welches sich, wie bereits der Name verrät, ebenfalls mit Hara beschäftigt.
In der Einladung zum Seminar wurde betont, wie wichtig es sei, sich warme, kuschelige Kleidung mitzubringen - ggf. ein Tuch zum Umhängen, in jedem Fall dicke Socken! So hatte ich mich für den ersten Tag mit einem Rollkragenpullover ausgestattet und rechnete mit viel "Sitzen und Hara-Atmen". Und dann kam es natürlich ganz anders! Nach einer kleinen theoretischen Einleitung, bei der wir unter anderem erfuhren, dass das Hara das Survivalzentrum des Körpers ist und für die Selbstregulation sorgt, dass die Hara-Atmung den Vagus aktiviert und damit für Entspannung und Stressabbau sorgt, sollten wir die Übung "Mandala" beginnen. Ich sah mich schon mit Stift und Zettel in der Ecke sitzen und kreisförmige Muster ausmalen, wie ich es aus den Schulzeiten meiner Kinder kannte! Aber weit gefehlt - Mandala heißt erst einmal nur "Kreis". Im Zentrum der Übung standen daher kreisförmige Bewegungen. Um gleichwohl zentriert im Sinne des Seminars zu bleiben, wurde vor den Kreis-Übungen eine Aktion mit zentrierter Ausrichtung ausgeführt - ganz simpel: Wir sollten zu Musik auf der Stelle laufen, die Knie vorne hoch ziehen - möglichst schnell und 15 Minuten lang! Uff! Und ich stand da mit meinem Rollkragenpullover, na toll! Ich legte los und dachte erst: "Boah, ist das anstrengend!", und sah auch die Leute um mich herum schwitzen, hörte sie keuchen. Doch dann besann ich mich und hörte auf die Musik - es war ein Trommelsong, der mich an Safri Duos "Played Alive" erinnerte - und plötzlich fühlte ich mich wie auf einer Party! Die Anstrengung war wie weggeblasen und ich rannte, was das Zeug hielt! 😃 Fast war ich traurig, als die Viertelstunde herum war! Im Anschluss setzten wir uns in Seiza und sollten zehn Minuten links herum aus dem Hara heraus mit dem Oberkörper kreisen. Diese zehn Minuten kamen mir schon etwas länger vor, waren aber gut machbar. Für die dritte Kreisübung legten wir uns auf den Rücken uns ließen die Augen kreisen - diesmal rechts herum, also im Uhrzeigersinn - fünf Minuten lang. Das war sehr unheimlich und kostete Überwindung. Es wurde mir ein bisschen schwindelig dabei. Anando betonte, wie wichtig es sei, auch die Augenmuskulatur regelmäßig zu trainieren - vor allem, weil wir als "zivilisierte Westeuropäer" oftmals stundenlang auf einen Bildschirm starren. Die Augen haben direkten Zugang zum Reptiliengehirn. Daher lässt sich durch gezielte Augenbewegung auch unser Spannungszustand verändern. Hier musste ich viel an die SOK-Ausbildung denken - auch dort gibt es vor einem ähnlichen Hintergrund ähnliche Übungen, allerdings nicht in dieser Länge und nicht so intensiv.
Auch am zweiten Tag gab es eine kombinierte Zentrier- und Kreisübung: zunächst 20 Minuten zentrieren durch ein bestimmtes Bewegungsmuster auf der Stelle und im Anschluss sollten wir uns fünf Minuten lang mit geöffneten Augen so schnell wie möglich auf der Stelle drehen. Normalerweise ist so eine intensive Körperdrehungsübung gar nicht oder nur schwer möglich, ohne herumzueiern und das Gleichgewicht zu verlieren. Aber durch die Zentrierung vorher gelang es tatsächlich! Zur Hilfestellung konnten wir in unsere linke Handfläche schauen, die wir beim Drehen auf Augenhöhe halten sollten. Fortgeschrittene könnten das aber auch ohne Hand-Hilfe, indem sie quasi "nach innen" schauten. Die Übung gelang mir erstaunlich gut, was auch an der Hintergrundmusik gelegen haben kann. Kurz vor Ende konnte ich meinen Arm nicht mehr oben halten und ich versuchte es erst mit dem rechten Arm bzw. der rechten Handfläche - aber das wollte gar nicht gelingen! Dann eben ganz ohne Hilfestellung versuchen und "nach innen" blicken - was auch immer damit genau gemeint ist - genau erklärt hatte Anando es vorher nicht. Ich versuchte, in mein Hara hineinzuatmen! Das ging! Oder ich konzentrierte mich auf den linken Fuß, der sich auf der Stelle drehte - ging auch! Als die fünf Minuten vorbei waren, lebten alle noch, waren unverletzt und einige fühlten sich sogar wie im Rausch. So einen Höhenflug hatte ich zwar nicht erlebt - aber immerhin war mir die Übung gelungen, ohne auf die Nase zu fallen.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Seminars waren Qi Gong Übungen. Hierbei schulte ich mich in der Nutzung des Ki - durch optimale Ausrichtung der Gelenke und Gliedmaßen ließ sich eine energetische Körperspannung aufbauen, die die Muskelkraft beinahe überflüssig machte! Fantastisch! Wir übten das "Eiserne Hemd", hielten den "Mond", umarmten einen "Baum" und standen als "Armleuchter" herum. Nach den Übungssequenzen, die drei bis fünf Minuten dauerten, sollten wir dem spontanen Bewegungsfluss unseres Körpers folgen - was unendlich gut tat, da die Übungen auch ohne bewusste Muskelanspannung recht anstrengend waren.
Apropos Bewegungsfluss: Neben den doch auch reichhaltigen Zazen Sitzungen und der einstündigen Morgenmeditation am Sonntag gab es mehrmals regelrechte Tanz-Sequenzen, bei denen die Bewegungsfreude ausgiebig ausgelebt werden konnte! Diese Lebensfreude, Energie und das schöne Miteinander haben das Seminar wunderbar abgerundet - und natürlich wieder für durchgeschwitzte Kleidungsstücke gesorgt!
Zwischendurch gab es eine "Formenkunde", in der wir wichtige Hinweise zu unserer Haltung bzw. Stellung bekamen. Eine wichtige Grundstellung entspricht unserem Heiko Dachi. Zur korrekten Ausführung sollten wir erst mit geschlossenen Füßen stehen, dann die Zehen nach außen drehen (wie Musubi Dachi) und dann die Fersen hinter die Zehen drehen. Dieses Stellung sei perfekt, um das Hara zu spüren, zu trainieren. Im Hara sitzt auch der Wille des Menschen. Wer in der korrekten Stellung steht, kann seinen Willen eher spüren, äußern, durchsetzen. Soll der Wille unterdrückt werden, so wird eher der Heisoku Dachi oder Musubi Dachi eingenommen (mir fiel dabei ein, dass auch Soldat*innen so stehen in der Hab-Acht-Stellung - das kommt ja dann nicht von ungefähr!). Die korrekte Meditationsposition hingegen war nicht so streng vorgegeben, wie ich es aus der Zen-Meditation kenne. Wenn man in der Knieposition kniet, soll man die Oberschenkel nur eine faustbreit auseinander haben und die Zehen sollten sich möglichst hinter dem Meditationskissen berühren. Speziell die Qi-Gong-Übungen bedurften noch weiterer Erklärungen: wie die Armhaltung zu sein hatte, damit nur die Sehnen und Gelenke die Spannung tragen und wir möglichst wenig Muskelkraft brauchen, wie hierbei zu atmen haben (in unserer Vorstellung durch spezielle Punkte in den Händen und Füßen - außen am Körper ein- und hinten am Körper ausatmend - sehr speziell und nur zum Teil auf Anhieb nachvollziehbar). Spannend war für mich die Vorstellung der "Goldenen Locke" - auch ich sage z.B. den Karatekindern gelegentlich, sie sollten sich bei der Meditationsphase vorstellen, jemand habe ihnen wie bei einer Marionette ein Band am Hinterkopf befestigt und würde leicht daran ziehen. So ähnlich ist auch das Prinzip der "Goldenen Locke", die uns in unserer Vorstellung himmelwärts ziehen könnte - dies nicht nur bei der Meditation, sondern auch beim Gehen. Hierbei sollte der Hinterkopf etwas angezogen und das Kinn leicht Richtung Brustkorb gezogen werden. Ich probiere es nun aus, durch diese Idee aufrechter zu gehen - ohne meine Schultermuskeln bewusst einsetzen zu müssen.
Am Samstagabend gab es als "Zugabe" noch ein Abendseminar - wir sollten uns zu zweit zusammentun und gegenseitig unser "Hara lesen". Ohne nun hier zu sehr in die Tiefe zu gehen, kann ich sagen, dass mich speziell diese Übung sehr überrascht hatte, da ich zunächst sehr skeptisch war, ob so etwas funktionieren kann. Es war erstaunlich, was jeweils "sichtbar" wurde und wie die gegenseitige Resonanz darauf war!
Insgesamt waren es drei sehr lehr- und ereignisreiche Tage mit wundervollen Menschen! Die Osho-Meditaion am Sonntagnachmittag, bei der wir zunächst 30 Minuten im Zazen verharrten und gemeinsam "Summten" (Summen beruhigt nämlich, habe ich gelernt 😏) mit anschließenden weiteren 15 Minuten Sitzen (in Verbindung mit einer Geben- und Nehmen-Armgeste) waren tatsächlich etwas lang und da konnte auch die anschließende Ruhephase nicht entspannen, so dass ich am Ende dann doch froh war, als das Seminar sich dem Ende zu neigte.
Mein Fazit ist, dass sich für mich eine Tür zu einer neuen Karate- und Lebensdimension gezeigt hat, die ich ein stückweit geöffnet habe. Um sie ganz aufzuschieben braucht es vermutlich noch viel Kraft und Zeit und Hingabe.
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