Mittwoch, 5. Juni 2024

Wie wirkt Budo als japanisches Kulturgut auf westlich kultivierte Menschen? - Eine Betrachtung des Budos mit Bezug auf die Kulturdimensionen nach Hofstede

Im Rahmen der Ankündigung des diesjährigen (2024) Kata Spezial Events in Tauberbischofsheim veröffentlichte der Veranstalter folgende Anweisung: 

"Wichtiger Hinweis an die Dan-Träger, die am Kata-Spezial oder Gasshuku teilnehmen!
Eine Teilnahme von Dan-Trägern an Einheiten, die für bestimmte Kyu- oder andere Dan-Grade ausgelegt sind, bedarf einer Genehmigung durch einen Repräsentanten des Gasshuku e.V. (Horst Gallenschütz, Klaus Schäfer, Pascal Senn) und des jeweiligen Sensei.
Sollte diese erteilt werden, dann gilt die Regelung, dass sich diese Dan-Träger während des Trainings in die hintere Reihe stellen müssen!!!
Auch mit Genehmigung kann eine Teilnahme zudem nur dann erfolgen, wenn noch ausreichend Platz für das Training der Kyu- oder der anderen Dan-Grade vorhanden ist.
Ein respektloses Hineindrängen und Stören der Einheiten anderer wird nicht geduldet!
"Karate beginnt mit Respekt und endet mit Respekt"
OSS
der Gasshuku e.V."

Spontan wollte ich diese Aussage innerlich abnicken. Schließlich hatten sich Mitglieder unseres Dojos, die in der Unter- oder Mittelstufe an großen Lehrgängen teilgenommen hatten, schon mehrfach darüber beklagt, dass sich fremde Schwarzgurte in den Einheiten der Farbgurte in die vorderste Reihe stellten und den Farbgurten (für die die Einheiten ja eigentlich gedacht waren) die Sicht nahmen. Als ich jedoch intensiver über diese Situationen nachdachte, kam mir der Gedanke, dass japanische Karateka für Hinweise wie den des Gasshuku e. V. eventuell kein Verständnis hätten. Könnte es sein, dass es in der japanischen Kultur ganz selbstverständlich ist, dass Höhergraduierte - unabhängig von der Zielgruppe der Trainingseinheit - besonders disponierte Plätze einnehmen? Abschließend kann ich es nicht beantworten. Unbestritten ist jedoch, dass in der japanischen Kultur Hierarchien eine ganz andere Bedeutung haben als bei uns in Europa, in Deutschland. Ist es dann stimmig, wenn wir bestimmte Budo-Regeln abwandeln? Werfen wir einen Blick auf die unterschiedlichen Kulturen in Japan und in westlich kultivierten Ländern. 

Unterschiedliche Kulturdimensionen
Kultur ist nach Ansicht des niederländischen Kulturwissenschaftlers und Sozialpsychologen Geert Hofstede ein von mehreren Menschen geteiltes Programm für bestimmte Muster (im Denken, Wahrnehmen, Fühlen, Handeln, in Konzepten, Praktiken, Problemlösungen etc.) und gleichzeitig ist sie ein Mittel, Unterschiede zu anderen Gruppen oder Kulturen auszudrücken und festzulegen.  Es ist hier nicht nur Kultur im Sinne nationaler Herkunft gemeint, sondern auch die des Berufs, des Geschlechts, des Unternehmens oder Dojos, in dem die Menschen arbeiten oder lernen/unterrichten. Kultur ist niemals ein endgültiges Ergebnis, sondern entwickelt sich immer fort, weil Menschen ständig ihre Umwelt interpretieren und versuchen, in ihr einen Sinn zu sehen und angemessen mit ihr und den Mitmenschen umzugehen. Dieser Interpretationsansatz hat viel mit der Vergangenheit der Menschen zu tun und mit dem jeweiligen Kulturraum. Bei Kultur geht es im Gegensatz zur Geschichte nicht um die Speicherung, sondern um die Nutzung von Traditionen. Und in der Nutzung von Traditionen liegt auch die Möglichkeit zum Wandel
Zur Einordnung von Kulturen Hofstede folgende fünf Kulturdimensionen definiert: 
  • geringe vs. hohe Machtdistanz
  • Maskulinität vs. Femininität
  • schwache vs. starke Unsicherheitsvermeidung
  • hohe vs. niedrige Langzeitorientierung
  • Kollektivismus vs. Individualismus

Werfen wir einen Blick auf die japanische Kultur: Sie ist unter anderem geprägt durch die konfuzianische Ethik und den Feudalismus der Edo-Zeit, welche die Kultur des Landes aufgrund der selbstauferlegten Isolation über Jahrhunderte maßgeblich formte. Hier gelten entsprechend der fünf Kulturdimensionen Hofstedes folgende Attribute: hohe Machtdistanz, ein hoher Grad an Maskulinität, starke Unsicherheitsvermeidung, hohe Langzeitorientierung und stark ausgeprägter Kollektivismus. In Deutschland sind diese Attribute beinahe entgegengesetzt ausgeprägt, da bei uns vor allem das Zeitalter der Aufklärung mit Philosophen wie Kant und Rousseau Spuren in der Gesellschaft hinterlassen hat. Hier haben Machtdistanz und Maskulinität vor allem in den letzten 50 Jahren deutlich abgenommen. Zudem sind bei uns Unsicherheitsvermeidung und Langzeitorientierung geringer ausgeprägt als in Japan. Statt eines kollektivistischen Gemeinschaftsgefühls wird unsere Gesellschaft vom Streben nach Selbstbestimmung und Individualismus bestimmt. Kein Wunder, dass uns "typisch japanisch" ausgeprägtes Budo exotisch und fremd erscheint! 

Schauen wir uns die Kulturdimensionen des Budos einmal genauer an: Die hohe Machtdistanz spiegelt sich im Budo durch eine klare Hierarchie und  Strenge wider. In den Kampfkünsten ist die Hierarchie bereits an der Aufstellung im Dojo erkennbar: Die hohen Dan-Träger*innen stehen meist ganz rechts, die Anfänger*innen ganz links und die Kyu- bzw. Schüler-Grade (Deshi) stehen, der Graduierung nach geordnet, dazwischen. Dan-Träger*innen werden in Bezug auf die Position im Dojo und auch auf die zugeteilten Aufgaben privilegiert, tragen aber auch eine höhere Verantwortung als die niedriger graduierten Deshi. Dieses Hierarchie-Gefälle kann sich darin äußern, dass der im Karate geforderte Respekt in Japan nicht unbedingt gleichermaßen in beide Richtungen fließt, sondern dass vor allem die niedriger Graduierten den fortgeschrittenen Schüler*innen oder Meister*innen gegenüber Respekt erweisen müssen. Auch wenn die Haltung dann "von oben herab" erscheint, wird dies in Asien offenbar nicht als störend empfunden. Westlich kultivierte Menschen hingegen stören sich möglicherweise an einem stark ausgeprägten Hierarchiegefälle, weil bei uns auch im Alltag eine geringer ausgeprägte Machtdistanz gilt und eher flache Hierarchien anzutreffen sind: Die Chefin in der Firma wird gedutzt, Kinder werden in Kita und Schule partizipativ erzogen, autoritär agierende Führungskräfte und Lehrpersonen werden in unserer Gesellschaft eher wenig geschätzt. Ein einseitiges Respekt-Gebot von unten nach oben entspricht daher nicht unseren sonstigen kulturellen Rahmenbedingungen.  

Die japanische Kultur - und damit auch das Budo - ist zudem geprägt von einem hohen Grad an Maskulinität. Diese zeichnet sich laut Hofstede durch ein hohes Durchsetzungsvermögen und große Strenge aus. In femininen Gesellschaften verhalten sich die Mitglieder eher beziehungs- und kooperationsorientiert. In Deutschland ist die Kultur mäßig maskulin ausgeprägt. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die im Budo-Unterricht geltende Strenge zunächst befremdlich wirkt. Gleichwohl würde in Kampfkünsten ein wichtiger und charakteristischer Aspekt fehlen, wenn die Unterrichtsinhalte in den Stunden "durchdiskutiert" würden und der Unterricht "antiautoritär" erfolgte.  Daher ist den Dojos in Deutschland gegebenenfalls ein höheres Feingefühl der oder des Sensei im Umgang mit den Übungsklassen erforderlich als in Japan, um einen angemessenen Grad der Strenge auszudrücken. 

Eine weitere Kulturdimension asiatischer Kulturen ist nach Ansicht von Hofstede das Prinzip der Unsicherheitsvermeidung: Menschen in diesen Kulturen sind verunsichert, wenn Situationen eintreten, auf die sie nicht vorbereitet sind oder deren Anforderungen unklar oder gar widersprüchlich sind. Daher schätzen Menschen in diesen Kulturen es sehr, wenn möglichst viele Dinge klar geregelt sind und durch Regeln Recht und Ordnung herrschen. Hierauf kann es zurückzuführen sein, dass auch in den Budo-Kampfkünsten viele Regeln, Rollen und Routinen festgelegt sind und sich bestimmte Rituale eingespielt haben, deren Sinnhaftigkeit sich westlich kultivierten Menschen oft nicht auf den ersten Blick erschließt. Strenge Regeln werden in westlichen Kulturen, die einen geringer ausgeprägten Grad an Unsicherheitsvermeidung aufweisen, oftmals als einengend oder überflüssig empfunden und erzeugen ggf. sogar Widerstand und Misstrauen. Dies gilt vor allem dann, wenn der Sinn hinter den Regeln nicht ersichtlich ist. Wenn wir in unseren westlichen Dojos asiatische Budo-Regeln übernehmen, ist es meiner Meinung nach daher wichtig, die Bedeutung der Regeln zu kennen und auch erklären zu können. Das bewusste Umsetzen akzeptierter Budo-Regeln kann dann nicht nur im Budo-Unterricht, sondern auch im Alltag helfen, unsere Achtsamkeit zu stärken. Von dem im Dojo verlässlich etablierten Budo-Regelwerk profitieren auch in westlich kultivierten Ländern besonders jene Menschen, die in besonderem Ausmaß Unsicherheiten reduzieren oder vermeiden wollen. Dies können Kinder sein, aber auch Jugendliche oder Erwachsene, die sich im Alltag unsicher fühlen oder unter Ängsten leiden. Diese Personengruppen sind oftmals besonders dankbar für den festen Rahmen, der durch das Budo-Regelwerk geschaffen wird und können durch das Praktizieren von Kampfkünsten selbstsicherer werden und Ängste abbauen.   

Kulturen mit Langzeitorientierung streben nach der Definition von Hofstede langanhaltende Lösungen und Prozesse an. Dies zeigt sich im Budo vor allem darin, dass hier vor allem der Lernprozess zählt und nicht nur der kurzfristige Graduierungs- oder Wettkampferfolg. In der Budo-Praxis drückt sich dies  durch die konsequente und beharrliche Auseinandersetzung mit den technischen und spirituellen Inhalten der Kampfkunst aus. Langzeitorientierung lässt sich durch lang andauernde Beziehungen ermöglichen. Und auch dies lässt sich im Budo erkennen:  Zwischen dem oder der Sensei und den Schüler*innen bestehen meist enge und langjährige - oftmals sogar lebenslange - Beziehungen, die häufig auch über den Trainingsbereich hinaus in andere Lebensbereiche hineinreichen. 

Schließlich bleibt noch der Aspekt des Kollektivismus. Kollektivistisch geprägte Kulturen zeichnen sich durch Gruppenbildung aus. Die Mitglieder einer Gruppe unterliegen der Verpflichtung gegenseitiger Unterstützung und Hilfeleistung. Kinder wachsen in „Wir“-Begriffen auf.  Eigenen Bedürfnisse treten zugunsten der Gemeinschaftsinteressen zurück. In Japan ist die Kultur stark kollektivistisch ausgeprägt. Der Alltag ist daher in Japan durch eine große Hilfsbereitschaft und großen Respekt geprägt. Zusammenhalt, aufeinander Achten, Hilfeleistung und Zivilcourage sind hohe Werte, die auch durch Budo vermittelt werden können. Auf der anderen Seite fallen Menschen, die in Japan versuchen, sich von den Normen einer Gruppe zu distanzieren, auf und werden möglicherweise sanktioniert. Hierdurch kann großer sozialer Druck entstehen, der zu Einbußen der Lebensqualität führt. Eine weiterer Aspekt kollektivistisch ausgeprägter Kulturen ist die Abgrenzung zu anderen Gruppen. Dies kann sich durch gruppenintern einheitliche Zugehörigkeitszeichen äußern und eine Abgrenzungssymbolik zu anderen Gruppen. Im Karate Do zeigt sich dies beispielsweise durch die uniforme Trainingskleidung, die uns von anderen Sportarten oder Freizeitbeschäftigungen deutlich abgrenzt und auch zeigen soll, dass das Ausüben einer Kampfkunst etwas "Besonderes" ist. Da unsere Kultur weniger kollektivistisch ausgeprägt ist als die japanische und bei uns Individualität und Selbstbestimmung hohe Werte sind, lässt sich der im japanischen Budo gelebte Grad an Kollektivismus nicht vollumfänglich auf das in Deutschland gelebte Budo übertragen. Gruppengefühl und Einheitlichkeit lassen sich vermutlich nicht ganz ohne sozialen Druck auf die Übungsgruppen übertragen. Dennoch sollte hier maß- und respektvoll vorgegangen werden unter Beachtung der Menschenwürde.

Die Übernahme japanischer Kulturelemente in unsere Kampfkunst und vielleicht sogar in unseren Alltag kann insgesamt eine große Bereicherung sein. Gleichwohl können und müssen wir meiner Ansicht nach nicht alle japanischen Kulturaspekte hundertprozentig kopieren oder vollumfänglich übernehmen. Die Aufforderung des deutschen Gasshuku e. V., Respekt auch seitens der Dan-Träger*innen den Kyu-Graduierten gegenüber zu erweisen, ist daher stimmig - auch wenn in Japan vielleicht andere Regelungen gelten mögen.

Quelle: Kulturdimensionen Hofstede und Zeitorientierung nach Lewis und Hall  in "Interkulturelles Training - Trainingsmaterial zur Förderung interkultureller Kompetenzen in der Arbeit" Kumbruck und Derboven, Springer Verlag, Berlin Heidelberg, 2015


Anmerkung: Da dieser Artikel meine Gedanken wiedergibt und keine wissenschaftliche Arbeit ist, habe ich auf eine wissenschaftliche Zitationsweise zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichtet. Die Quelle meiner Gedanken ist das oben genannte Buch.




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