Warum hilft denn keiner?
Wegschauen und weitergehen: Viele Menschen reagieren in Notsituationen falsch und kneifen, wo Hilfe dringend nötig ist. Doch "unterlassene Hilfeleistung" ist kein Kavaliersdelikt. Angst und Ekel zählen nicht als Ausrede.
Wie lässt es sich erklären, dass immer wieder Unfälle oder Verbrechen geschehen, ohne dass anwesende Zeug*innen helfend eingreifen?
Zuschauer*innen-Effekt / Bystander-Effekt (Aronson/Wilson/Akert)
- Situative Faktoren beeinflussen in bestimmten Fällen das Verhalten von Zuschauer*innen in Notsituationen
- Hierbei sind drei Phänomene zu unterscheiden:
o Pluralistische Ignoranz: Zuschauer*innen nehmen an, dass es sich bei dem beobachteten Vorfall nicht um einen Notfall handelt, weil auch von den anderen anwesenden Personen niemand besorgt wirkt und aktiv wird. Die Untätigkeit wird so interpretiert, dass keine Reaktion notwendig sei.
o Verantwortungsdiffusion: Hierbei handelt es sich um das Phänomen, dass bei Zuschauer*innen in Notfällen das persönliche Gefühl, für eine Hilfeleistung verantwortlich zu sein, abnimmt, je mehr Personen anwesend sind.
o Bewertungsangst / Hemmung: Einzelne Personen greifen im Notfall nicht ein, weil sie fürchten, etwas falsch machen zu können (z. B. bei Erster Hilfe). Je unvertrauter die Situation ist, desto größer ist die Hemmung. Diese Bewertungsangst oder Hemmung kann auch durch die Angst ausgelöst werden, sich vor anderen anwesenden Personen zu blamieren, wenn die Hilfeleistung nicht erfolgreich ist.
Kosten-Nutzen-Modell (Aronson/Wilson/Akert)
- Das Leid einer anderen Person kann Zuschauenden unangenehme Gefühle verursachen. Durch Hilfeleistung können diese Gefühle abgebaut werden. In diesem Fall hat die Hilfeleistung einen Nutzen: Die helfende Person fühlt sich nach erfolgter Hilfeleistung besser.
- Demgegenüber verursacht die Hilfeleistung häufig einen Aufwand (Überwinden-müssen, Zeitverlust, sich selbst in Gefahr bringen etc.).
- Die Abwägung zwischen dem guten Gefühl nach einer Hilfeleistung und dem erforderlichen Aufwand ist nach Aronson/Wilson/Akert ausschlaggebend dafür, wie eine Person in einer Notfall-Aktion reagiert.
- Die Hilfeleistung geschieht demnach auch aus Eigeninteresse: wenn der Nutzen (das „gute Gefühl“) größer ist als der Aufwand.
Prosoziales Verhalten
- Umfasst alle Formen zwischenmenschlicher Unterstützung
- Urban-Overload-Hypothese (Milgram): Hilfsbereitschaft ist in der reizüberfluteten Umgebung einer Stadt geringer als auf dem Land
Warum helfen wir überhaupt? – drei prosoziale Normen im gelebten Alltag (Werth und Mayer)
- Wir helfen aufgrund von sozialer Verantwortung.
- Wir helfen aus dem Bedürfnis der Gerechtigkeit heraus.
- Wir helfen besonders denen, die uns auch helfen würden.
Lässt sich Hilfsbereitschaft lernen?
Die oben beschriebenen Phänomene sind uns vermutlich allen mehr oder weniger vertraut. Das Wissen darüber kann helfen, in einem entscheidenden Moment nicht tatenlos zu bleiben. Folgende Schritte können uns helfen, Notsituationen einzuschätzen:
1. Ereignis bemerken: Achtsamkeit im öffentlichen Raum, Menschen und Umgebung mit entspannter Aufmerksamkeit betrachten und auf diese Weise z. B. bemerken, dass eine Person in Not sein könnte
2. Ereignis als Notfall erkennen: lieber zweimal hinschauen, als wegzuschauen!
Wenn möglich, die hilfsbedürftige Person fragen, ob sie Hilfe benötigt („Auftrag abholen“) oder andere umstehende Personen fragen, ob sie das Ereignis auch als Notfall wahrnehmen (und vielleicht gemeinsam mit Ihnen eingreifen würden)
3. Übernahme der Verantwortung: sich nicht darauf verlassen, dass andere helfen und die eigene Unterstützung nicht erforderlich ist
4. Kompetenz für Notfälle erlangen: Besuchen eines Erste-Hilfe-Kurses, Rettungschwimmer-Kurs belegen, Fort- und Weiterbildungen besuchen, Informations-Angebote der Polizei wahrnehmen; im Zweifel kann fast immer die Polizei per Handy angerufen werden. Wichtig ist, nichts zu unternehmen, was Helfende selbst in Gefahr brächte!
5. Bewertungsängste und Hemmungen abbauen: Durch das Wissen über die eigene Kompetenz schwinden Bewertungsangst und Hemmung. Die Kosten-Nutzen-Abwägung wird mit zunehmender Notfall-Kompetenz aller Wahrscheinlichkeit nach zugunsten einer Hilfeleistung ausfallen.
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