Meine beiden Töchter besuchen derzeit die Theresien-Grundschule in Münster. Beim letzten Elternabend erfuhren wir, dass eine Projektwoche zum Thema "Olympia" stattfinden würde und wurden gebeten, uns eventuell als Projektleiter oder Helfer zur Verfügung zu stellen. Als Projekt-Themen gab es z. B. Griechenland, Leben und Essen in China (da ja die diesjährige Olympiade dort stattfindet), Theresien-Marathon, Leichtathletik, Mosaik, Tempelbau, Ringen und Raufen und - Selbstverteidigung! Spontan dachte ich: warum nicht? Da kann man doch sicher etwas Tolles veranstalten. Also meldete ich mich als Leiterin für dieses Projekt.
Je näher die Projektwoche rückte, desto mulmiger wurde mir alledings...schließlich hatte ich bisher nur als Co-Trainerin an SV-Kursen mitgewirkt und noch nie einen geleitet und - wie würde dies mit einer Horde von Kids funktionieren? Ich habe daheim ja mit meinen eigenen meist schon genug "zu kämpfen"! Zudem hatte ich auch nicht wirklich den Kopf frei, um den Kurs vorzubereiten, da ich ja mitten in den Vorbereitungen zur Dan-Prüfung steckte.
Dennoch fielen mir nach und nach ein paar schöne und kindgerechte Ideen ein und was die tatsächliche Selbstverteidigung anging, orientierte ich mich an dem Konzept meines Vereinskameraden Thorsten Rabeneck (4. Dan), der die bisherigen Kurse, an denen ich mitgewirkt hatte, leitete.
Etwa eine Woche vor Projektbeginn kam meine Tochter Franziska, die sich schon auf das Mama-Tochter-Projekt gefreut hatte und die ich im Stillen schon als "Assistentin" eingeplant hatte, schluchzend nach Hause: Laut Planung des Schulleiters wäre sie gar nicht in meiner Gruppe! Schnell war dies aber telefonisch grade gerückt und bei der Gelegenheit verriet mir der Schulleiter auch, dass "mein" Projekt das mit den meisten Nennungen als Erstwunsch war. Wow! Nun war ich erst Recht im Zugzwang, einen schönen Kurs anzubieten.
Nach und nach fielen mir auch einige schöne Ideen ein. So hatte ich einen spontanen Einfall, als Einstieg "Wer wird Millonär" zu spielen: die Kids in zwei Gruppen aufteilen und je 10 Fragen stellen, die Gewinnergruppe bekommt eine Tüte Gummibärchen. Die Fragen lauteten dann z. B. "Was bedeutet der Begriff Karate?" A: Der Begriff ist aus einem Schreibfehler entstanden und heißt eigentlich Rakete. B: Es ist die Abkürzung für Kanalratte. C: der leere Kopf oder D: die leere Hand. Andere Fragen lauteten: "Was macht Kim Possible unschlagbar?" (Antwort für alle über 14: Judo) oder aber auch: "Was ist ein Kiai?". Die Kids sollten wie bei Jauch pro Gruppe vier Joker bekommen.
Da ich zwei Vormittage mit Programm zu füllen hatte, plante ich nicht nur Theorie mit ein ("Wie gerate ich gar nicht erst in gefährliche Situationen?" oder "Wie verhalte ich mich, wenn jemand mich auffordert, mit ins Auto zu steigen?"), sondern auch ausgiebige Funktionsgymnastik und Kraftübungen, (Budo-)Spiele und Zirkeltraining. Für alle Fälle, falls am Ende meines Kurses noch ganz viel Vormittag übrig wäre, hatte ich ja noch ein paar klassische Karate-Techniken in petto, die ich vermitteln konnte.
Aber soweit kam es gar nicht. Ich kam mit meiner Zeit nämlich auf den Punkt aus! Eine Sportlehrerin hatte sich bereit erklärt, für alle Fälle dabei zu bleiben, falls eines der "Schäfchen" mal über die Stränge schlüge und pädagogischer Anweisungen bedürfte. Letztlich hatte ich zwar ein gutes Gefühl, sie in der Nähe zu wissen, eingreifen musste sie jedoch nicht: Selbst die von mir gefürchteten "Rabauken" ließen sich schnell zähmen und fühlten sich besonders bei den handfesteren Übungen augenscheinlich gut!
Am Anfang also "Wer wird Millionär?". Zum Glück ging es nach Verbrauch aller Joker unentschieden aus, so dass ich mir keine Gedanken über enttäuschte Gesichter machen musste. Die Gummibären wurden redlich geteilt und hochmotiviert ging es mit Funktionsgymnastik und Krafttraining los. Der Ton, den ich anschlug, war sicherlich nicht üblich für eine schulische Veranstaltung, aber vielleicht haben die Kids von mir auch keine Samthandschuhe erwartet?!?!?
Als alle warm waren, ging es weiter mit Schlag- und Trittübungen im "Trockenen", also im Stand und in die Luft "geboxt" und "getreten". Hierbei erzählte ich dann ein wenig über Atmung und Körperspannung und auch wie es zum Kiai kommt und dass man dabei das Wort "Kiai" nicht aussprechen muss (was dann aber doch viele der Kids machten - aber immerhin schöööön laut ;-)
Alle Kinder führten die Übungen sehr konzentriert durch, aber so richtig "Feuer" fingen sie erst, als ich sie aufforderte, mal ein richtig böses "Karate-Gesicht" aufzusetzen. Jetzt war der Kampfgeist geweckt und voller Begeisterung wurden auch anschließend dieselben Übungen an Pratzen durchgeführt. Meine Tochter bestand darauf, nicht an den Übungen teilzunehmen, sondern selber eine Pratze für andere Kinder zu halten. So konnten wir in zwei Gruppen á ca. 10 Kindern üben und es traten schnell die ersten Fortschritte zu Tage.
Zwischendurch sollten die Kinder dann zur Stimmbildung einmal laut schreiend durch die Halle laufen, bis ihnen der Atem ausging - eigentlich gar nicht nötig, denn der Kampfschrei gelang von Anfang an. Um den Kids die Scheu vor gegenseitigem Körperkontakt zu nehmen, hatte ich einige Kontaktspiele ausgesucht. Aber auch hier überraschten mich die sechs- bis 10-jährigen: Bodycheck war kein Problem und das beliebteste Spiel war "Möhrenziehen", bei dem selbst mir Bedenken kamen, ob denn wohl alle Arme und Beine dran bleiben würden!
Am ersten Tag verließen mich "meine" Schüler dann glücklich und recht erschöpft und mit ziemlich roten Wangen! Ob ichs am zweiten Tag genauso gut hinbekommen würde?
Wir starteten "karatemäßig" mit dem Aufstellen in einer Reihe und wie selbstverständlich wurde angegrüßt, abgekniet und kurz mit geschlossenen Augen meditiert. Kein Kind fand das komisch oder "doof" und selbst die wildesten Kerle hatten artig die Augen geschlossen (ich hab natürlich geblinzelt, sonst wüsste ich das ja nicht;-)
Beim ersten Reaktionsspiel (Abklatschen erst am Oberarm, dann am Oberschenkel und in der dritten Runde sowohl-als-auch) bekam ein Kind wohl eine "Ohrfeige" und es galt, ein paar Tränchen zu trocknen. Aber anschließend war die Begeisterung wie am Vortag ungebrochen, vielleicht sogar noch etwas gesteigert, da jetzt Hintergründe und auch einige Übungen schon bekannt waren. Das Karategesicht gehörte schon zur "Grundausstattung" und auch das Durchhalten bei Gymnastik- und Kraftübungen war kein Thema mehr. Ich machte deutlich, dass eine gute Grundfitness eine unabdingbare Voraussetzung für effektive Selbstverteidigung sei. Die beste Technik heißt schließlich immer noch: Weglaufen! und ein modernes, chipsfutterndes "Computer-Kid" hat da keine guten Chancen. Das sahen alle ein und so gaben sie auch alles, was ich von ihnen abverlangte - wanden sich in der Gymnastik, stöhnten bei Situps und Liegestützen, brüllten füchterlich bei kraftvollen Schlägen gegen die Pratzen und waren dann auch dankbar für die Pausen und ruhig, wenn ich etwas zu erzählen hatte.
Nachdem wir einige "gefährliche" Situationen besprochen hatten und wie man sich in diesem oder jenem Fall zu verhalten hätte, wo man auf seinem Schulwege mögliche "Rettungsinseln" habe oder welche Telefonnummern immer parat sein müssten, wurde die Zeit dann doch ziemlich knapp, um noch die eigentliche Partner-Selbstverteidigung auszuprobieren und ein kurzes Programm für die Vorstellung des Projekts am Abschlusstag einzuüben.
Vielleicht sollte ich die Partnerübungen beim nächsten Mal etwas eher ansetzen, denn um kurz vor 11 waren die Kinder nicht mehr so konzentriert wie z. B. gleich nach der großen Pause. Aber auch jetzt konnten sie gut umsetzen, was ich von ihnen verlangte: Z. B. einer umklammert den anderen von hinten - Reaktionsmöglichkeit A: Finger zu fassen kriegen und zu brechhen versuchen. B (Wenn Arme auch mit umklammert sind): Auf den Fuß treten, Schrecksekunde nutzen und unten/seitlich wegtauchen, dem Angreifer dabei noch mit der Handkante in die Genitalien schlagen. Aber auch den Daumen-Druck auf die Luftröhre habe ich gezeigt und ausprobieren lassen, auch wenn weder mir, noch der Lehrerin ganz wohl bei der Geschichte war. Aber die Kinder probierten diese Technik mit genausoviel Respekt und Rücksicht aus wie die Übung, bei der mit der offenen Hand über das Gesicht des Gegners gefahren wird, um ein oder zwei Augen zu "erwischen". Ganz schön brutal! Aber effektiv.
Damit all dies nicht gleich auf dem Schulhof in die Praxis umgesetzt würde, stellte ich u. a. die Karatephilosophie von Meister Funakoshi vor: Karate ni sente nashi - Karate kennt keinen ersten Angriff. Auch das Dojokun wurde vorgetragen, besprochen und hinterher an die Kinder als Bestandteil einer Kursmappe ausgeteilt. Einen ganz kleinen Exkurs ins Strafrecht habe ich mir dann auch erlaubt, ohne allerdings zu erwähnen, dass die Kinder ja noch nicht strafmündig sind ;-) Ob ich die Grundschüler mit einer Kurzfassung der Entwicklungsgeschichte des Karate langweilen würde, hatte ich kurz überlegt. Dann ergab es sich aber in einer Verschnaufpause, dass ich von Okinawa, und vom Waffenverbot erzählte. Irgendwo hatte ich gelesen, dass in einem Dorf sogar nur noch ein einziges Küchenmesser erlaubt war -weiß nicht obs stimmt, aber es hörte sich gut an. Ich berichtete von der Umwandlung von Handwerksgeräten zu Waffen (Kobudo), vom Üben waffenloser Kampfkunst im Geheimen und schließlich von Gichin Funakoshi, der Karate bekannt machte und zu der Kampfkunst entwickelte, die wir heute kennen. Ich war mehr als überrascht, denn alle lauschten so gebannnt meinen Worten, man hätte eine Stecknadel fallen hören können!
Am Freitag fand dann die Präsentation aller Projekte vor der Schulgemeinde und der Elternschaft statt. Wir waren gleich als zweites dran. Alle Kinder stürmten mit lautem Kampfschrei auf die für die Aufführungen freigehaltene Schulhoffläche. Eine Reihe, Publikum angrüßen. Dann trat jedes zweite Kind einen Schritt vor und wir stellten uns alle in den Kiba-Dachi. Die nun folgenden zehn Faustschläge mit Kiai erregten auch die Aufmerksamkeit des letzten Zuschauers! Einige Faustschläge und Tritte zum "Aufwärmen" in die Luft - alles konzentriert und energisch! Ich war richtig stolz auf die "Zwerge"! Als nächstes berichtete ich kurz vom Inhalt des Kurses. Schließlich führten die Kinder noch die eingeübten Befreiungstechniken vor. Ich sah die ein oder andere besorgte Mutter im Zuschauerraum erschrocken den Kopf schütteln. Dies blieben aber wenige Ausnahmen - bei den meisten Eltern kam aber das gesamte SV-Projekt sehr gut an! Von vielen Kindern und Eltern wurde ich gefragt, wann der nächste Schnupperkurs begänne und fast alle meiner Kinder waren sich einig: Karate und Selbstverteidigung sind spitze!
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
1 Kommentar:
Hallo Eki,
KLASSE!
Nicht nur ein schöner Bericht sondern sicher auch zwei schöne Vormittage.
Solltest Du wiederholen!
Wieviele Neuanmeldungen hat Dein Karateclub ??
Gruss aus Frankfurt
Christine
Kommentar veröffentlichen