Kein Wunder, dass ein Mensch mit diesem Lebenslauf zum Philosophen wird und sich in einem späteren Werk fragt "Wer bin ich und wenn ja, wieviele?"! Die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren turbulente, chaotische Zeiten, in denen sich die Eltern des Autors Richard David Precht auf der Suche nach globaler Gerechtigkeit und unter anderem aus Protest gegen das Gebaren der USA in Vietnam politisch am äußeren linken Rand orientierten. Zu den drei leiblichen Kindern Hanna, Richard und Georg wurden zwei Waisenkinder aus Vietnam adoptiert und es folgte ein umfangreiches Engagement in Organisationen wie Terre des Hommes.
Äußerst bildhaft schildert Precht den unermüdlichen sozialen und politischen Engagement der Eltern und ihrer Freunde, nicht ohne die Ambivalenzen der linken Kultur der späten 60er und der 70er Jahre aufzuzeigen. So wundert sich Precht z. B., dass er von seiner Mutter stets dazu angehalten wurde, in der Schule auch gegen den Willen der Lehrer die eigene (linke) Meinung (oder war es vielmehr die Meinung seiner Mutter?) durchzusetzen - zu Hause wurden Widersprüche allerdings nicht geduldet. Die vielen Opfer des Vietnamkriegs wurden zu Recht vom linken Umfeld beklagt - die unzähligen Toten des roten Mao-Regimes galten offenbar aber als "Kollateralschäden" für die globale Gerechtigkeit. Diese Unstimmigkeiten regen heutige Leser wohl mindestens genauso auf, wie die seinerzeit von den Linken beanstandeten Mißstände und Ungerechtigkeiten.
Entstanden ist ein Buch, das mich beschäftigt wie lange keins mehr. Die vielen Bilder spuken noch in meinem Kopf herum und drängen mich gradezu, hier weiter nach Ursachen und Hintergründen zu forschen. Recht einfach zu recherchieren werden hierbei vermutlich die historischen Begebenheiten sein (Vietnamkrieg etc.). Schwieriger zu ergründen sind Fragen wie: Warum hatte sich die Großmutter Prechts das Leben genommen? Warum hat die Mutter die Familie verlassen (ich hätte eher verstanden, wenn der Vater Prechts, der offenbar eigentlich eher seine Ruhe haben wollte und wohl nicht so linksradikal war wie die Mutter, Reißaus genommen hätte) und vor allem: Warum hat Precht in seiner Lebensentwicklung offenbar die Pubertät ausgelassen (er durfte nicht Fernsehen, keine moderne Musik hören, weder modische Kleidung noch sonst übliche Konsumgüter genießen, musste statt dessen außschließlich Platten von Regimekritiker Degenhart hören), also die Entwicklungsphase, die gradezu nach Revoluzzertum schreit und in der man sich üblicherweise von seinen Eltern abgrenzt, seine eigene Persönlichkeit entwickelt?
Gradezu blind ist er statt dessen den Ideologien der Linken gefolgt, bis das System durch die sich verändernde Weltgeschichte quasi links und rechts überholt wurde. Tapfer schildert Precht, wie er mit vielen Sinnungsgenossen krampfhaft an den Ideen des Kommunismus und Sozialismus des Ostens festhält, obgleich sich inzwischen herausstellt, dass auch die Systeme der gelobten Länder Sowjetunion und DDR ihre Fehler haben. Nur zögerlich verblasst der rote Stern über dem Osten und läßt die Träume der Linken von einer gerechteren und lebenswerteren Welt wie Kartenhäuser zusammenfallen.
Prechts persönliches Schlüsselerlebnis war offenbar die Besichtigung des Tierparks Ostberlins. Zu diesem Zeitpunkt war er als reifer Jugendlicher noch absolut begeistert vom Zusammengehörigkeitsgefühl der Gesellschaft in der DDR, welches er als Kind bei einem Besuch nahe Magdeburg erlebt hatte. Ein Buch über den ostberliner Tierpark löste bei ihm in Kindertagen wahre Begeisterungsstürme aus und die Vision, einmal selber "Tierparkdirektor" zu werden. In seinen Träumen wandelt er durch den Park, kennt die Gehege beinahe auswändig und fast die Tiere beim Vornamen, freut sich mit den hunderttausenden von Besuchern, die in dem Buch abgebildet sind, malt sich aus, wie man den Park erweitern und vielleicht sogar noch schöner gestalten könnte.
Eines Tages sollte er den Tierpark nun endlich wirklich besuchen. Am Tag zuvor besichtigte er - quasi zum Vergleich - mit Bruder Georg zunächst den West-Berliner Zoo. Jaaaa, auch schon ganz nett. Aber doch ganz bestimmt nichts im Vergleich zu dem Ost-Tierpark am kommenden Tag. Wie schrecklich traf den Autor dann die Ernüchterung: Eine verfallene Aufbewahrungsanstalt für Tiere, eine Dauerbaustelle - und vor allem: Wo sind die vielen, begeisterten Arbeiter, die durch die Erholung des Tierparks ihre Arbeitskraft erhalten? Der Schock saß tief und langsam dämmerte es auch Precht, dass die Idylle des Sozialismus und des Kommunismus häufig nicht mehr waren als Potemkinsche Dörfer.
Irgendwie ein schönes Buch, ein lustig geschriebenes Buch, ein herrlich naiver Rückblick auf Jahrzehnte der Verwirrung und politischen Umorientierung, auf angstvolle Zeiten zwischen einem Weltkrieg und einer drohenden Atomkatastrophe. Irgendwie ein verwirrendes Buch voller politischer und soziologischer Brisanz, voller Sachverhalte, Probleme und Fragen, die bis heute rätselhaft und ungelöst sind. Und irgendwie ein Buch, das eine fatalistische, fast schon tröstliche Gelassenheit bei mir ausgelöst hat - scheinbar lassen sich die Geschehnisse auf der Welt, läßt sich das Schicksal der Menschheit nur begrenzt beeinflussen. Und: In den meisten Fällen lassen sich Kinder nicht durch extreme Erziehungsziele formen, häufig entwickeln sie sich schließlich sogar ins Gegenteil (Prechts zunächst linke Schwester Hanna achtet bei den eigenen Kindern plötzlich penibel auf Tischmanieren, der Sohn eines befreundeten (linken) Ehepaares wird zum rechtsradikalen Brandstifers mit Todesfolge).
Was ist das Resüme dieses Buches, welche Lehre zieht der Leser daraus? Vermutlich ist wie so oft auch bei der Lebensgestaltung der goldene Mittelweg die optimale Alternative, nicht zu weit links, nicht zu konservativ (Precht bezeichnet sich selber heute als konservativen Linken) und all das möglichst gemischt mit einer Prise gesunden Menschenverstands. Letzterer allerdings fliegt einem m. E. nicht einfach zu, den muss man sich erwerben - z. B. durch die Lektüre von Büchern wie diesem.
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