Am 19.03.2016 folgten 30 Interessierte aus ganz NRW meiner Einladung zum Street Combatives Seminar im Fuji San. Einige der Teilnehmer/innen hatten Karate-Kenntnisse, andere kamen aus dem Krav Maga oder anderen Systemen und es waren auch Personen zu Gast, die noch keinerlei Erfahrungen mit Kampfkünsten oder -systemen hatten.
Das Seminar war auf 5 Stunden angesetzt - die Zeit verging aber wie im Fluge! Dies lag nicht zuletzt an der mitreißenden und kurzweiligen Moderation und Anleitung durch unseren Coach Carsten Zimmerman. Carsten kommt ursprünglich aus dem Jujutsu und ist seit einiger Zeit auch Street-Combatives-Instructor.
Was vielleicht einige Teilnehmer/innen überrascht haben mag: Wir starteten mit einer dreiviertelstündigen Theorie-Einführung, die durch eine Power-Point-Präsentation unterstützt wurde. Carsten eröffnete den Nachmittag mit der Frage: "Wer von Euch hatte bereits Gewalt-Erfahrung?" Es hoben sich nur sechs Hände, was ja an sich erst einmal ein beruhigendes Gefühl vermittelt - so gefährlich scheint das Leben ja dann doch nicht zu sein. Dass aber ein dummer Zufall, ein einziges "zur-falschen-Zeit-am-falschen-Ort-Sein" ausreichen kann, um ein ganzes Leben zu zerstören, erfuhren wir anhand der Präsentation, die zahlreiche, durch öffentliche Videokameras aufgezeichnete, Gewaltszenen veranschaulichte. Das war wahrlich nichts für schwache Nerven und sicher einer der Hauptgründe, warum das Seminar erst "ab 18" ausgeschrieben war.
"When life goes wrong...." - was kann uns dann noch helfen? Ganz unbestritten ist die Beschäftigung mit Kampfkünsten oder -systemen aller Art ein guter Ansatz, so Carsten. Es ist dabei im Grunde egal, welcher Kampfkunst oder welchem System man sich verschreibt - alle haben ihre Daseinsberechtigung! Und dieses Gefühl hatte ich ja auch schon bei meinem ersten SC-Seminar in Olpe: Karate bereitet verdammt gut auf den Ernstfall vor - es gab unendlich viele Parallelen zum SC-Konzept!
"Wenn Du mit einem Kind das Überqueren der Straße übst - was bringst Du ihm bei: Den Zusammenstoß mit einem Auto zu überleben? Oder das Auto rechtzeitig zu sehen und den Zusammenstoß zu vermeiden?", fragte Carsten uns im Theorieteil weiter. Die beste Selbstverteidigung besteht auch nach dem SC-Konzept nicht darin, Auseinandersetzungen zu suchen, um sie zu überstehen. Es geht vielmehr darum, einen Gefahrenradar zu entwickeln und die Gefahr zu meiden. Dies fällt unter die so genannte Pre-Konflikt-Phase, in der unter anderem der Begriff Gefahrenmanagement genannt wurde. Carsten verglich diese Phase vor der körperlichen Auseinandersetzung mit einem Vorstellungsgespräch: Der potenzielle Täter hat eine "Stelle" ausgeschrieben und diese freie Stelle heißt "Opfer". "Dies", so Carsten, "ist das einzige Bewerbungsgespräch, dass ihr in eurem Leben versauen solltet." Der Angreifer will unseren Besitz, unseren Körper oder unser Leben. Wie auch ich es in meinen Kursen stets betone, lohnt es sich auf keinen Fall, für materielle Werte das eigene Leben oder die Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Ist der Gegner scharf auf unser Geld, Handy oder sonstige Wertgegenstände, so sind diese abzugeben. Bei Angriffen auf unser Leben oder unsere Unversehrtheit, lohne sich in jedem Fall Widerstand. Denn was will der Gegner auf keinen Fall: Er will nicht, dass die Auseinandersetzung lange dauert. Im Regelfall will der Angreifer auch keinen Kampf mit einem gleichwertigen Gegner, es handelt sich eher um eine Art Ritualkampf, bei dem nach seiner Vorstellung von vornherein feststehen sollte, wer gewinnt. "Beuteverhalten povoziert Jägeraktivität", zitierte Carsten einen anderen Kampfexperten.
Vorgestellt wurde weiter der so genannte Cooper Color Code, der sich mit dem Grad unserer Aufmerksamkeit beschäftigt: Bei der Phase weiß sind wir total entspannt und widmen keinem Geschehen eine besondere Aufmerksamkeit. Dies ist z. B. der Fall, wenn wir "auf dem Sofa sitzen". Phase gelb beschreibt eine gelassene Aufmerksamkeit, die wir aktivieren sollten, sobald wir das Haus verlassen. Gelassene Aufmerksamkei bedeutet nicht, ständig überall Gefahren zu wittern und überängstlich durch die Gegend zu gehen. Aber es bedeutet, die Umgebung zu betrachten und ungewöhnliche Veränderungen sofort wahrzunehmen und auf mögliche Gefahren überprüfen zu können. Bei möglicherweise wahrgenommener Gefahr geht man in Phase orange über, eine spezifische Aufmerksamkeit, bei der wir uns innerlich auf Flucht oder eine Auseinandersetzung vorbereiten können. Bei Phase rot steht der Kampf unmittelbar bevor und Phase schwarz beschreibt die Situation, bei der der Kampf in vollem Gange ist. Ein ähnliches Modell, das die verschiedenen Phasen einer Auseinandersetzung beschreibt, ist der Ooda Loop, der einen Kreislauf beschreibt, in der die Phasen observe-orient-decide-act ineinander greifen.
Deeskalation steht auch nach der Street-Combatives-Strategie ganz oben! Um eine Auseinandersetzung möglichst noch runterzukochen, sollte man möglichst eine "non violent position" einnehmen, die von der Körperhaltung her der Schiedsrichterposition entspricht: Füße in L-Stellung, Handflächen gehöffnet, Blick noch weit (nicht stechend oder drohend), ggf. "italienisch" gestikulierend, so dass die Ellenbogen vor dem Körper liegen und man jederzeit eine Schutzhaltung einnehmen kann. Möglich ist hierbei auch, einen Ellenbogen quer vor die Rippen zu halten und den anderen Unterarm darauf aufgestützt, mit der Hand an der Schläfe zu halten ("Denker-Position").
Hat all das nichts genutzt, sind wir im Kampf. Dave Grossmann hat eine "Herzschlag-Skala" erstellt:
Unter Stress steigt der Herzschlag und ab einem gewissen Level sind wir nicht mehr in der Lage, feinmotorische Aktionen durchzuführen. Dies ist der Zeitpunkt, zu dem nach meiner Theorie aus Kampfkunst Selbstverteidigung werden muss - die Kraft und Beweglichkeit, die wir uns jahre- oder jahrzehntelang beim Kampfkunsttraining angeeignet haben, muss jetzt auch automatisiert und grobmotorisch funktionieren! Ziel ist in erster Linie, ein Zeitfenster zu erkämpfen, in dem wir entkommen können! Hierzu gab es später eine schöne Übung: Wir taten uns zu dritt zusammen. Je einer von uns musste 30 Sekunden auf der Stelle sprinten, anschließend im Stand mit zu Boden geneigtem Oberkörper einen Arm zum Boden führen und sich 10 mal im Kreis drehen. Hierbei sollte der Zweite aufpassen, dass der Aktive nicht das Gleichgewicht verlor. Nach den Drehungen galt es, gnadenlos auf die Pratze zu schlagen, die der Dritte an der Hand hielt. Das Laufen und Drehen sollte den Effekt simulieren, den wir zu erwarten hätten, wenn wir uns in einem Kampfgetümmel befinden und sich in uns ein bestimmtes Stresslevel aufgebaut hat - unter diesen Voraussetzungen noch die Pratze zu treffen und kraftvoll zu schlagen, ist gar nicht so einfach!
Einige Fragen, die sich alle stellen sollten, die Kampfkünste nicht nur zum Selbstzweck erlernen, sondern die auch in der Lage sein wollen, sich damit zu verteidigen: "Zu welcher Art und Intensität der Verteidigung bin ich tatsächlich bereit? Wie weit kann und will ich im Ernstfall gehen? Bin ich willens und bereit, jemanden tatsächlich ernsthaft bei meiner Gegenwehr zu verletzen?" Es lohnt sich durchaus, dies regelmäßig im Kopf durchzuspielen, damit man im Ernstfall nicht vollkommen überrascht ist und möglicherweise aus Unsicherheit erstarrt.
Derart gut eingestimmt ging es nun endlich an die praktischen Übungen: Wir wurden nach der Tabata-Methode aufgewärmt und automatisierten dann zunächst eine Deckung für unseren Kopf, denn: "80 % aller Erstangriffe gehen zum Kopf - Ziel ist es, euren Computer auszuschalten." Der linke Ellenbogen wurde hier links seitlich an den Kopf gehalten und der rechte Ellenbogen legte sich eng um die Stirn und seitlich über das rechte Ohr, so dass die rechte Hand auf dem linken Handgelenk fixiert war und das rechte Auge verdeckte. Da die meisten Angreifer Rechtshänder sind, macht diese Position in den allermeisten Fällen Sinn. Wie alle anderen Techniken und Drills auch, übten wir auch diese Sicherungstechnik zunächst "trocken", d. h. jede/r für sich und ohne Partner/in. Anschließend taten wir uns zu dritt zusammen und je zwei schlugen etwa 30 Sekunden lang mit Handpratzen auf unsere Deckung. Anschließend übten wir ein, die Deckung spontan hoch zu reißen und schnell auf plötzliche Angriffe zu reagieren. Verschärft wurde die Übung noch dadurch, dass der Angegriffene Rechenaufgaben zu lösen hatte: von der Zahl 793 in 7-er-Schritten runterzählen - und dabei noch auf die Angriffe achten! Das hatte schon was! :-)
Mir persönlich am schwersten fiel die Übung "Slap mit der offenen Hand". Hierbei bewegten wir uns "windmühlenartig" und schlugen in großem Kreis seitlich gegen den Kopf des Partners bzw. gegen die davor gehaltene Pratze. Wichtig war hierbei, dass beim Schlag der Ellenbogen nicht nach unten zeigte. Bei der Körperdrehung, die den Schlag auslöst, sollte die Nase überm Zeh stehen (nose over toe).
Als nächstes übten wir den Hammerfauststoß, bei dem wir darauf achten sollten, dass die Bewegung durch den ganzen Körper läuft und quasi kettenartig fließt. Wir schlugen von oben auf eine waagerecht gehaltene Pratze. Schließlich übten wir zu dritt: Einer hielt den Schlagenden von hinten fest und zog ihn rückwärts, so dass es dem Schlagenden erschwert wurde, die Pratze zu treffen und den Schlag kraftvoll auszuführen. Im nächsten Durchgang wurde die "Position Motorhaube" simuliert: Einer der drei ging in den Vierfüßlerstand, ein weiterer legte sich rücklings darauf, die Beine auf dem Boden aufgestellt. Der Dritte bedrängte den auf der "Motorhaube" frontal oder seitlich und man musste jetzt versuchen, aus dieser ungünstigen Position noch die Pratze auf der Hand des Bedrängenden zu treffen. Klasse Übung, die viel Kampfgeist erforderte!
Wir beließen es nicht bei Arm- und Fausttechniken, sondern setzten auch das Knie ein. Beintechniken seien nur bedacht einzusetzen, so Carsten. Beim Kneelift denken viele Menschen spontan, dass man damit die Genitalien treffe - besser sei es aber, das Hüftgelenk bzw. die Leiste zu treffen und den anderen damit rein physikalisch und im wahrsten Sinne des Wortes einknicken zu lassen. Wie auch ich es in meinen Kursen stets betone, sind viele Angreifer schlicht schmerzfrei - und reagieren nicht wie erwartet bei einem Tritt in die Hoden. Man solle sich besser vorstellen, dass man das Knie hochreiße und durch den Gegner hindurch ginge. Das übten wir dann auch sehr beherzt, indem wir versuchten, mit dem Knie die Pratze zu treffen, die der Trainingspartner vor die Leiste hielt.
Nach einer kleinen Pause ging es ans Dirty Fighting - Schluss mit lustig, also! Bei einem Griff an den Hals sollten wir unsere Hände innen durch die Arme des Gegeners zu dessen Gesicht führen und den Kopf wie eine Bowlingkugel seitlich drehen. Anschließend könnten wir mit der Hammerfaust dafür sorgen, dass der Gegener nicht noch einmal wagt, uns anzugreifen!
Ein Angreifer kommt leider selten allein! Darum macht es Sinn, sich nach dem Ausschalten eines Gegners, umzusehen - "Watch your six!" - auf sechs Uhr sehen, also einmal um 180 Grad umblicken, bevor man sich sicher fühlen kann. Man sollte sich besser vorne herum drehen, als hinten herum, weil dort schon jemand stehen könnte, den man grade nicht sehen kann.
Zur Abwehr aus der Bodenlage übten wir zwei Varianten: Die erste von beiden verfolgte weniger den Gedanken der realen Selbstverteidigung, als vielmehr das Üben von Schlägen aus ungünstiger Position (ähnlich der Übung "Motorhaube"): Ein Partner lag am Boden und der andere legte sich fest auf ihn drauf, in jeder hand eine Handpratze haltend und diese auf die Arme oder den Oberkörper des anderen drückend. Der unten liegende sollte jetzt zunächst versuchen, den anderen nach oben wegzudrücken und dann noch Schläge auf die Pratze zu verpassen.
Im Ernstfall mache es aber nicht viel Sinn, den Gegner in dieser Lage wegzudrücken. Im Gegenteil: Läge der andere unmittelbar auf einem drauf, sei dieser ja selbst in der Handlungsfähigkeit eingeschränkt! Besser sei es unter Umständen sogar, den anderen fest an sich heran zu ziehen, so dass der Abstand noch weiter verringert ist. Weiter geht es auch in dieser Position mit der "Bowlingkugel" - dem anderen seitlich um den Kopf herum ins Gesicht greifen, bis er sich aus der Position löst und wir freikommen. Herrlich! Was hatten mein Partner und ich einen Spaß bei dieser Übung :-D
Als unsere Kräfte beinahe aufgebraucht waren, erklärte uns Carsten noch die Post-Konflikt-Phase nach dem SC-Konzept: Nach einem Kampf empfiehlt es sich, das Krankenhaus anzurufen und die wichtigen Fragen wo, wer, was, wie zu beantworten. Anschließend sollte man sich hinsetzen und im Sitzen einen eigenen Body Check durchführen. Im Sitzen deshalb, weil man vielleicht viel Blut verloren hat und ohnmächtig zu werden droht - oder einen Schock bekommen kann, wenn man größere Verletzungen an sich feststellt und auch dann aus dem Gleichgewicht gerät und stürzt. Gut und sinnvoll ist es auch jeweils, unmittelbar nach einem Vorfall Zeugen zu sichern, damit bei einer eventuellen rechtlichen Auseinandersetzung nicht unglücklicherweise die Rollen Angreifer und Verteidiger vertauscht würden.
In der Feedbackrunde gab es ausschließlich positive Resonanz für Coach und Konzept! Einige Fragen umkreisten das Thema Notwehrrecht, welches von Carsten und auch anderen Teilnehmern zum Abschluss noch einmal intensiv beleuchtet wurde.
Für mich sind Exkurse dieser Art in andere Kampfkünste oder -systeme immer von besonderem Wert - nicht, weil unsere Kampfkunst Karate für reale SV unzureichend wäre, sondern um eine Bestätigung dafür zu finden, dass Karate-Prinzipien eben auch bei dem Blick über den Tellerrand gültig sind und uns das regelmäßige Training optimal auf den Ernstfall vorbereitet.
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