Freitag, 11. Oktober 2019

Fujis Trainer trotzen dem Taifun

Für Torsten und mich stand im Oktober 2019 wieder eine wichtige Fortbildung in Japan an. Wir planten, zunächst bei André Bertel Sensei in Oita in sehr persönlicher 1:2-Kombination zu trainieren, um anschließend weiter nach Okinawa zu reisen – der Keimzelle unserer Kampfkunst! Die Reise ging wie immer über Tokio, Zielflughafen Narita.

Kurz vor Reisebeginn verfolgten wir Berichte von Freunden, die ebenfalls grade in Japan waren. Von einer Sorge darüber, ob die geplante Rückreise stattfinden könne, war die Rede – schließlich würde doch am kommenden Wochenende der Taifun Hagibis in Japan – speziell auch in Tokio – erwartet. Es sollte in diesem Jahr bereits der 19. Taifun sein – und es war zu erwarten, dass dieser alle voran gegangenen übertreffen sollte! Wie bitte? Taifun? Ohje – schnell stand fest, dass der Taifun vermutlich exakt mit unserer Ankunft zusammentreffen sollte! In erster Linie sorgten wir uns um unsere japanischen Freunde und auch unsere Freunde und Bekannten, die sich grade in Japan aufhielten: Aktuell fand schließlich das JKA-Autumn-Camp im Honbu Dojo statt, an dem auch unsere DJKB-Trainerriege, bestehend aus Thomas Schulze Sensei, Toribio Osterkamp Sensei und Markus Rues Sensei teilnahm. Japan würde sich für den Taifun wappnen: Ab unserem Ankunfttag sollten viele Flüge gestrichen und der öffentliche Nah- und Fernverkehr sollte eingestellt werden, alle Menschen wurden gebeten, sich mit Nahrungsmitteln für ein paar Tage einzudecken und ab Samstagmittag möglichst das Haus nicht mehr zu verlassen. 



Anfragen bei der Fluggesellschaft, die uns nach Japan bringen sollte, brachten zunächst Entwarnung: Von Besonderheiten bezüglich unserer Anreise, Flugstorni oder ähnlichem war nichts bekannt. Der Pilot, der den Flieger nach Tokio steuerte, kündigte dann auch lediglich an, es könne ggf. Tubulenzen beim Anflug geben. Taifun Hagibs würde erst am Nachmittag, also nach unserer Ankunft, Tokio erreichen. Letztlich war es wohl der ruhigste und entspannteste Flug, den Torsten und ich jemals hatten! 


Vielleicht hat mein Glücksbringer tatsächlich Glück gebracht :-) 


Allerdings gingen unsere persönlichen „Turbulenzen“ im Anschluss los! Wir hatten ursprünglich geplant, direkt am Ankunftstag per Shinkansen weiter nach Oita zu fahren, wo uns an den folgenden Tagen André Bertel Sensei erwarten würde. Aber nun war ja wegen des Taifuns der Shinkansen-Betrieb eingestellt und die Weiterfahrt unmöglich. Vom Flugzeug aus versuchten wir dann, kurzfristig ein Hotelzimmer zu buchen. Wegen der aktuell stattfindenden Großereignisse (Rugby-WM und Formel-1-Rennen) war das allerdings alles andere als ein Kinderspiel! Dennoch hatten wir Erfolg: Ein kleines Appartement in Shinjuku sollte es sein! Beruhigt verfolgten wir die Landung und ließen die nachfolgenden Einreiseprozeduren über uns ergehen. 

Als ich nachfolgend die konkrete Anschrift der Unterkunft ermitteln wollte, sah ich, dass man zuvor Kontakt mit dem Inhaber aufnehmen sollte, um den Schlüssel zu bekommen. Leider erhielt ich schnell folgende Info: „Sorry! Because of Taifun Hagibis we are not able to organize the key – you cannot sleep in this appartement!” Oh je – und jetzt? Eine schnelle Recherche ergab, dass der Markt der Unterkünfte inzwischen noch schmaler geworden war: Es gab einige Kapsel-Hotels (kleine „Schubladen“, in denen man sich zum Schlafen hineinlegen kann), ausreichend viele Hotelzimmer mit einem Preis oberhalb der 1000-Euro-Grenze – und noch einige Unterkünfte an der Bucht von Tokio. Hm – ein Zimmer mit „Meeresblick“ ist ja grundsätzlich verlockend – nicht aber im Anblick der sicher 20-Meter hohen Wellen, die angekündigt worden waren! 

Inzwischen waren wir im öffentlichen S-Bahn-Netz Tokios angelangt und empfanden die Atmosphäre als immer bedrohlicher. Die Weltmetropolo Tokio – eine Millionenstadt – wirkte wie ausgestorben! Die Straßen waren wie leer gefegt, in den S-Bahnen kaum ein Mensch, beinahe alle Geschäfte geschlossen! An einer S-Bahn-Station sprach ich eine Bahn-Angestellte an und fragte, ob sie eine Idee hätte, wie wir noch an ein Hotelzimmer kommen könnten. Ruckzuck kamen drei ihrer Kolleginnen dazu, die eigentlich dort eine Fahrkartenauskunft betreuen sollten, und versuchten sehr emsig, uns zu helfen! Sie sahen im Internet nach und riefen bei verschiedenen Hotels an - aber auch alle Unterkünfte, bei denen sie anfragten, waren ausgebucht! Letztlich beschlossen wir dann, doch ein Hotel an der Bucht zu nehmen – es blieb uns einfach nichts anderes übrig! 

Mit einem einzelnen Mann im Abteil fuhren wir per Yamanote Line Richtung Hotel. In der S-Bahn kam immer wieder die Ansage, dass auch diese Bahn wegen des nahenden Taifuns bald den Betrieb einstellen würde und es könne länger dauern, bis die Bahn wieder fahren könnte, da große Schäden erwartet würden. Oh Mann - das Szenario wurde immer bedrohlicher! 

An der Station angekommen, peitschte direkt der Regen auf uns los! Von Sturm war noch nicht viel zu spüren, aber Regen, Regen, Regen! Ruckzuck war auch meine Regenjacke schon durchweicht, die Schuhe von oben mit Regen gefüllt! In dem S-Bahnhof herrschte gähnende Leere! Erst, als wir die Treppe hoch auf die Straße nahmen, kam uns jemand entgegen, den wir auch direkt nach dem Weg fragten. Hilfsbereit, wie wir es in Japan von jedermann gewohnt wind, wurde uns sofort der Weg gezeigt. Zu unserem großen Glück fuhr zufällig grade ein Taxi vorbei, welches auch direkt für uns anhielt. Der Taxifahrer tat mir etwas Leid, da wir mit unserer inzwischen schon tropfnasser Kleidung und unserem nassen, sperrigen Gepäck in sein blitzsauberes Taxi sprangen - und dann auch nicht sehr weit fuhren, bis wir am Hotel waren! 

Neben dem Hotel hatte doch tatsächlich noch ein 7/11-Geschäft geöffnet - allerdings waren die Regale schon sehr geplündert! Wir konnten uns mit ein paar Kleinigkeiten eindecken, bevor wir ins Hotel gingen. 

Bis zum Bezug der Zimmer mussten wir etwa zwei Stunden im Foyer verharren. Der Regen wurde immer heftiger und am Hintereingang des Hotels hatte man bereits kleine Wassersperren errichtet, damit kein Wasser von der abschüssigen Garage ins Haus fließen konnte. 

Dann bezogen wir unser Zimmer - im 13. Stockwerk! Ausgerechnet! Von da aus hatten wir natürlich eine großartige Aussicht - auf viele andere Hochhäuser und die Straße unten. Die Bucht konnten wir nicht direkt sehen. Aber viel Regen, Regen, Regen....




 



Irgendwann am Nachmittag meinte Torsten etwas enttäuscht: "Mensch, für das Geld (immerhin umgerechnet etwa 350 Euro die Nacht für ein Doppelzimmer) hätte ich jetzt etwas mehr Action erwartet! Da ist ja Münster bei jedem Herbstregen spannender!" Ich muss gestehen, dass ich selber sehr froh war, dass alles draußen irgendwie noch normal wirkte....so suchte ich gegen 17 Uhr den Hotel-Onsen (ein aus heißen Quellen gespeistes Bad) auf. 


Als ich gegen halb sieben wieder auf dem Zimmer war, legte ich mich aufs Bett, um etwas zu entspannen. Ich blickte zufällig in Richtung Fenster und bemerkte, dass der Seilzug der Jalousie sich bewegte. Komisch! Es ging doch kein Luftzug durchs Fenster, oder? "Guck mal Torsten - komisch - der Seilzug wackelt! Wie kann das sein?" "Hm - weiß nicht. Wackelt halt," war die wenig hilfreiche Antwort. Nun erklang im Hotelflur eine Art Gong mit der Melodie von Big Ben. Wir hatten keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte! Plötzlich erklangen von draußen, also von der Straße, Ansagen über Lautsprecher - allerdings auf Japanisch, so dass wir kein Wort verstehen konnten! Schließlich erschien noch wie von Geisterhand auf unseren Handy-Displays ein mit japanischen Schriftzeichen verfasster Text, dessen Inhalt uns ebenfalls ein Rätsel war - und der verschwand, sobald wir die Handys entsperrt hatten! 

Das war mir alles sehr gruselig und so fuhr ich mit dem Aufzug zum Empfang runter und fragte nach, was das alles zu bedeuten hätte! Der Mensch am Empfang sprach nicht sehr gut Englisch und verkündete nur, dass die Warnung "nicht für diese Region" gewesen sei. Mir war immer noch nicht klar, um was für eine Warnung es sich gehandelt haben könnte. Ich fuhr wieder hoch - noch nicht so richtig beruhigt - und legte mich wieder aufs Bett. Via facebook hatte ich eine Nachricht von meiner Freundin Barbara aus Wilhelmshaven erhalten: "Wie war denn das Erdbeben vorhin?" Das WAAAAAS? Nun machte alles einen Sinn - der wackelnde Seilzug, der Big-Ben-Alarm, die Ansage draußen und auch die Schriftzeichen auf den Handy-Displays! Ein Erdbeben! Später erfuhren wir, dass das Epizentrum des recht leichten Bebens etwa 50 km entfernt, in der Region Chiba gelgegen hatte. 

Um 21.30 ging dann der Sturm los – und zwar so, dass das ganze Hochhaus ins Wanken geriet! Natürlich weiß ich, dass es wichtig und gewollt ist, dass Hochhäuser sich bei Sturm bewegen! Aber wenn man dann oben im 13 Stock ist, ist das trotzdem recht furchteinflößend! Unten auf der Straße waren immer wieder Feuerwehr-Fahrzeuge zu sehen und gegen 22 Uhr fuhren dort sicher 12 dieser Fahrzeuge Streife! Sie hatten offenbar die nahe Bucht im Blick - denn der Höhepunkt des Taifuns sollte auch noch mit der Flut zusammentreffen! Und gegen 23 Uhr war dann der Ganze Spuk vorbei! "Weißt Du, was jetzt passiert?", fragte ich Torsten. "Jetzt stehen alle Bahnbediensteten auf und fahren zur Arbeit, bringen alles in Ordnung, damit morgen früh um 6 Uhr alle Züge wieder fahren." So ist Japan! Aber wir konnten jetzt erstmal: Schlafen!

Am nächsten morgen sah man auf den Straßen Tokios – nichts! Und die Bahnen fuhren tatsächlich auch wieder – allerdings mit sage und schreibe 5 Minuten Verspätung! Als wäre dies an diesem Morgen die normalste Sache der Welt, buchten wir Sitzplätze in Zügen, die uns nach Oita bringen sollten und wir waren nach gut 7 Stunden dort und konnten dort unser Hotel beziehen.




Rückblickend hatten wir wohl richtig Glück gehabt! Der Höhepunkt des Taifuns war nämlich nicht - wie befürchtet - an der Küste zum Tragen gekommen, sondern etwa weiter landeinwärts. Insgesamt hatte Hagibis 88 Menschen das Leben gekostet! Und ein Drittel der Shinkansen-Flotte ist buchstäblich abgesoffen! 


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