Samstag, 23. Dezember 2023

„Mach‘s mir schwer, dann nehm‘ ich‘s leichter!“ Mögliche Einflüsse des Karate auf die Ausbildung der Resilienz bei Kindern und Jugendlichen

  


Können Einschränkungen, und das Überwinden von Widerständen Kinder und Jugendliche dabei unterstützen, die Fähigkeit der Resilienz auszubilden? Welche Rolle spielen hierbei das Angewöhnen zielgerichteter Bemühungen und das Aushalten von Entbehrungen? 

 

Gibt es Sport- oder Freizeitbeschäftigungen, die in Kindheit und Jugend nicht erlebte Einschränkungen und Entbehrungen ersetzen können, um daraus Resilienz zu schöpfen? Welche Fähigkeiten müssten die Trainerinnen oder Trainer hierzu mitbringen? Und welchen Einfluss haben die Eltern auf die Ausbildung der Resilienz ihrer Kinder? 

 

Resilienz, was ist das überhaupt? 

Der Begriff Resilienz[1] kommt eigentlich aus der Materialwissenschaft und wurde erst später in die Psychologie übertragen. Resilienz bezeichnete ursprünglich die Eigenschaft von Stoffen, die ihre ursprüngliche Form trotz extremer äußerer Einflüsse behalten oder nach kurzer Zeit wiedererlangen – wie z.B. ein Gummiball, der beim Aufprall auf den Boden eine Delle bekommt, dann aber nach ein paar Sekunden wieder seine runde Form annimmt. Übertragen auf die menschliche Psyche würde das bedeuten, dass resiliente Menschen über eine hohe psychische Widerstandskraft verfügen, so dass sie sich nach schwerwiegenden und belastenden Erlebnissen schnell wieder erholen. Insgesamt bedeutet eine hohe Resilienz also, dass Menschen psychisch belastende Ereignisse, Pechsträhnen, Krisen und Krankheiten, Unglück und Verluste vergleichsweise gut überstehen und keine schwerwiegenden Folge-Belastungen daraus entwickeln. 

 

In den Anfangszeiten der Forschung hatte man angenommen, Resilienz sei genetisch veranlagt. Heute ist man überwiegend der Ansicht, dass Resilienz das Ergebnis von Anpassungsprozessen an belastende Ereignisse ist. 

Demnach verändern sich Menschen also in Auseinandersetzung mit herausfordernden Lebensereignissen: 

  • Bestenfalls werden in herausfordernden Situationen Stärken entdeckt und entfaltet
  • Oder die Menschen lernen aus einer negativen Erfahrung und wappnen sich für zukünftige Herausforderungen. 
  • Vielleicht werden auch bisherige Einstellungen oder Auffassungen widerrufen, um in Zukunft nicht erneut Niederschläge zu erleiden. Dies kann sich in Vermeidungsstrategien äußern.

Widerstandskraft entwickeln

Die Idee, Widerstandskraft oder Abwehrkräfte zu entwickeln, kennen wir aus dem Bereich der Infektionskrankheiten: Um das körperliche Immunsystem zu stärken, wird eine Kur im Reizklima der Nordsee empfohlen oder es wird geraten, bei Kneipp-Kuren oder Wechselbädern den Körper an kaltes Wasser zu gewöhnen und dadurch „abzuhärten“. Durch Impfungen soll der Körper mit geringen Dosen von Krankheitserregern konfrontiert werden, damit Antikörper gebildet werden, um den Ausbruch der vollständigen Krankheit zu verhindern. 

Diese Ansätze kann man auch auf den Erwerb psychischer Abwehrkräfte übertragen: Nach diesem Modell müsste eine Person geringen Dosen von Entbehrungen und Anstrengungen und Frustrationen ausgesetzt werden, um gegen psychische Belastungen Abwehrkräfte entwickeln zu können. Die durchlebten Entbehrungen und Anstrengungen müssen auf ein sinnvolles Ziel hinführen und ein Erfolgserlebnis mit sich bringen. 

In den konkreten Situationen kann zum Beispiel erlebt werden:

  • Ich habe Energie, ich bin kraftvoll!
  • Ich bin selbstwirksam!
  • Ich kann mit wenig auskommen. 

Bedeutsam ist jedoch nicht nur das Erleben in der konkreten Situation, sondern vor allem auch der Transfer des Erlebten auf zukünftige, ähnliche Herausforderungen, Hürden, Aufgaben. Bei hinzugewonnener Resilienzfähigkeit können sich bei zukünftigen Krisen beispielsweise folgende Gedanken einstellen: 

  • Ich habe das schon einmal erlebt und überstanden. Dann überstehe ich es auch jetzt! 
  • Ich habe schon Schlimmeres erlebt und überstanden. Dann überstehe ich dies erst recht! 
  • Ich habe in der Vergangenheit selbst Lösungen entwickelt. Dann kann ich auch jetzt Lösungen finden!
  • Ich habe erlebt, dass ich meine Bedürfnisse wahrnehmen und kontrollieren kann und muss ihnen auch jetzt nicht unmittelbar nachgeben.
  • Ich kann mich in Geduld üben. 
  • Ich kann beharrlich sein.
  • Ich halte (Trainings)Routinen aus. 

Widerstände konstruieren

Viele Eltern möchten ihre Kinder wohl behüten und wünschen sich, dass die Kinder möglichst sorgenfrei leben. Die Kinder wachsen dann ohne große Widerstände auf. Studien haben ergeben, dass diese Kinder jedoch nicht glücklicher sind als andere Kinder. Häufig zeigen sie sogar Verhaltensauffälligkeiten, die denen verwahrloster Kinder ähneln. 

Zudem besteht die Gefahr, dass Menschen, die in der Kindheit und Jugend keine nennenswerten Herausforderungen zu erleben hatten oder nicht mit Widerständen kämpfen mussten, im späteren Leben an Hürden scheitern, die nach objektiven Maßstäben zu meistern gewesen wären. 

Daher stellt sich die Frage, ob Menschen, die in der Kindheit größere Schwierigkeiten erlebt haben, unter bestimmten Umständen ein größeres Resilienzpotenzial entwickeln. 

Bei Schwierigkeiten in der Kindheit kann es sich handeln um:    

  • Eigene Krankheiten (Krebs, Behinderung, chronische Erkrankung)
  • Krankheiten der Eltern oder Geschwister
  • Suchterkrankungen der Eltern oder Geschwister 
  • Spannungen / Trennungen im Elternhaus
  • Traumatisierungen z. B. durch Gewalt, Missbrauch, Unfälle
  • Tiefer sozialer Status / Armut
  • Häufige Umzüge und Schulwechsel
  • Krieg, Flucht, Vertreibung

Um aus diesen Krisen gestärkt hervorzugehen, ist es wichtig, dass in der Kindheit Strategien entwickelt wurden, die geholfen haben, die Schwierigkeiten zu überwinden. Diese Strategien können

  • intrinsisch sein (also von den Kindern selbst entwickelt) oder
  • extrinsisch (z. B. Unterstützung durch Eltern oder Lehrerinnen und Lehrer, Therapieformen, ärztliche Maßnahmen, Unterstützung durch Freundinnen und Freunde)

Es kann auch Aspekte geben, die verhindern, dass Kinder, die Entbehrungen erlebt haben, resilient werden. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn

  • die Krisen unüberwindbar sind.
  • das Kind keine ausreichende Unterstützung durch Familie oder außerhalb des Elternhauses findet. 


Wie könnte ein Sport- oder Freizeitangebot aussehen, das Kinder dabei unterstützt, resilientes Verhalten zu entwickeln?

Es kann vielfältige Angebote geben, die bei Kindern die Ausprägung der Resilienz fördern. Ich habe mich hier auf sportliche Angebote fokussiert, da sie für die meisten Familien am ehesten zu realisieren sind. Ein infrage kommendes Angebot sollte folgende Eigenschaften besitzen:

  • Es muss dem Kind Spaß machen!
  • Das Angebot wird möglichst in einer festen Gemeinschaft/Team betrieben. 
  • Es soll Anstrengungen erfordern, die das Erreichen eines (sportlichen) Ziels (Sportabzeichen, Turniergewinn, bestandene Gürtelprüfung o.ä.) zur Folge haben können
  • Das Angebot soll eine regelmäßige, strukturierte, möglichst verpflichtende Tätigkeit sein, die Disziplin und Beharrlichkeit erfordert.
  • Die sportliche Betätigung soll Entbehrungen, die im Alltag nicht erlebt werden, ersetzen, um die Psyche in geringen Dosen an Mangelgefühle zu gewöhnen. 


Beispiel Teamsportarten 

Das Team kann das sichere Netz bilden, das für das Aushalten von Entbehrungen und Frustrationen die wichtige Grundlage bildet. Das Ziel der beharrlichen Anstrengung kann ein Turniersieg oder der Aufstieg in eine höhere Liga sein. Teamsporttraining findet üblicherweise regelmäßig statt und ist bestenfalls gut strukturiert. Im Training von Teamsportarten darf keine/r fehlen oder sich hängen lassen. Bei den Entbehrungen kann es sich um Training im Freien - auch bei Regen oder Kälte - handeln. Ein Nachteil von Teamsportarten kann sich dadurch ergeben, dass oftmals der Erfolg des Teams im Vordergrund steht und Kinder, die weniger talentiert sind, „aussortiert“ werden.


Beispiel Kampfkünste 

Kampfkünste gelten nicht als Teamsportarten. Gleichwohl bildet ein gut geführtes Kampfkunst-Dojo eine starke soziale Gemeinschaft. Diese kann ähnlich dem Team in Teamsportarten als soziales Netz dienen und die Grundlage bilden, damit Entbehrungen ausgehalten, Frustrationen toleriert und Anstrengungen gelebt werden. Die Anstrengungen können durch das Erlangen einer neuen Gürtelfarbe oder Turniersiege belohnt werden – aber auch durch den Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten wie beispielsweise das Erlernen einer neuen Kampfkunst-Form (Kata) oder förderlicher Persönlichkeitsmerkmale wie Selbstbewusstsein oder sicheres Auftreten. 

Kampfkunstunterricht ist durch strenge Regeln, Rollen, Routinen und Rituale klar strukturiert und findet bestenfalls mehrmals pro Woche statt. Die Herausforderungen und Entbehrungen, die im Karate-Unterricht erlebt werden, sind vielfältig und können z.B. in der Überwindung bestehen, ein Brett durchschlagen zu wollen, bei Kälte oder früh am Morgen zu üben, barfuß zu üben (auch im Winter), Schmerzen zu erfahren, auf Speisen und Getränke während einer Übungsstunde zu verzichten.

Kampfkünste verlangen von Kindern oftmals eine strenge Disziplin, die sich nicht nur auf die sportlichen Übungsaspekte bezieht, sondern auch auf das generelle Verhalten (leise sein, gerade sitzen etc.). Zudem wird geübt, sich gegenseitig mit Respekt zu begegnen. 

Von Kindern, die eine Kampfkunst betreiben, wird eine gewisse Folgsamkeit erwartet, die in anderen Lebensbereichen etwas aus der Mode gekommen scheint. Es wird zudem erwartet, die eigenen Bedürfnisse zu kontrollieren und Impulse zu steuern. Insgesamt gibt es in den Übungsstunden wenig Raum für eigene Befindlichkeiten.

Was Kampfkünste deutlich von anderen Freizeitbeschäftigungen unterscheidet, sind die im Unterricht vermittelten und im Regelfall in den Alltag übergehenden Werte wie Höflichkeit, Bescheidenheit, Geduld, Selbstbeherrschung und Hilfsbereitschaft. Die Kombination aus Anstrengungen, Entbehrungen, Disziplin und einer sozialen Gemeinschaft, deren Mitglieder respektvoll miteinander umgehen, sorgen für eine Stärkung des psychischen Immunsystems und stärken die Reslieienz. 

In Kampfkünsten kommt es vor allem auf den oder die Lehrer*innen an: Diese sind weit mehr als Trainer*innen oder Übungsleiter*innen. Sie müssen auch Vertrauenspersonen sein und sollten über folgende Fähigkeiten bzw. Eigenschaften verfügen:

  • Gute fachliche, didaktische, pädagogische Ausbildung
  • Gute Menschenkenntnis
  • Wohlwollen und Begeisterungsfähigkeit
  • Gelebte TrainerInnen-Ethik (nicht wie John Creese bei Karate-Kid)
  • Verzicht auf Schikane
  • Fähigkeit zur Selbstreflexion, Bereitschaft zur Inter- und Supervision
  • Karatelehrer*innen dürfen ihre eigenen Schwächen und Defizite nicht auf die SchülerInnen projizieren. Sie müssen die Persönlichkeiten er Schülerinnen und Schüler (er)kennen mit all ihren Stärken und Schwächen akzeptieren.

Einfluss der Eltern auf die Ausbildung der Resilienz ihrer Kinder

Neben den unterstützenden Sport- oder Freizeitbeschäftigungen haben die Eltern den größtmöglichen Einfluss auf die Ausbildung der Resilienzfähigkeit ihrer Kinder: Überall dort, wo es nicht unbedingt Hilfe benötigt, sollten Eltern ihre Kinder selbst agieren lassen. Sie sollten zudem. altersgerecht Verantwortung übernehmen müssen (für das eigene Haustier, die Ordnung im Kinderzimmer o.ä.). Den Schulweg sollten Kinder nach Möglichkeit selbst bewältigen (zu Fuß, mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln). 

Daneben brauchen die Kinder in der Familie einen stabilen Rahmen mit einem guten Gleichgewicht aus Wärme und Unterstützung auf der einen Seite sowie Grenzen und Kontrolle auf der anderen. 


Literatur: 

 

Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft, Christina Berndt, Deutscher Taschenbuch-Verlag (dtv), 2015

 

Diplomarbeit „Überbehütete Kinder und die Entwicklung der Emotionsregulation“ von Lisa Reitzig, Universität Wien, 2014

 

Budo – Wesen und Wirken der Kampfkunst, Jörg-M Wolters, BoD Books on Demand, 2020


[1] Der Begriff Resilienz leitet sich von dem lateinischen Verb resilire ab, was zurückspringen, abprallen bedeutet.

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