Was hat die Verarbeitung von Traumata mit dem Systemischen Aggressionsmanagement (SAM) zu tun? - Erstaunlich viel!
Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit dem Schutz vor und der Entstehung von Gewalt. Als Karateka, Karatelehrerin und Trainerin für Selbstbehauptung und Selbstverteidigung wurde mir schnell deutlich, dass Eigenschutztraining reduziert auf körperliche Selbstverteidigung sehr eindimensional ist und unter Umständen mehr schaden kann als zu nützen. Im Jahr 2013 - fast zeitgleich mit der Gründung der eigenen Karateschule - sah ich in einer TV-Talkshow den Deeskalationstrainer Ralf Bongartz. Ich kontaktierte ihn und ließ mich durch ihn zur Fachpädagogin für Konfliktkommunikation ausbilden - ein Fachbereich, in dem die körperliche Abwehr hinter deeskalierenden Methoden zurück tritt. Durch Ralf erfuhr ich zum ersten Mal von SAM, dem Systemischen Aggressionsmangement, welches von Dirk Schöwe in Rostock entwickelt und vermittelt wird. SAM beschäftigt sich nicht nur mit dem Schutz vor Aggressionen und Gewalt, sondern vor allem auch mit der Entstehung: Das Modell der "Aggressions-Acht" veranschaulicht quasi "kinderleicht", dass Aggressionen und Gewalt grundsätzlich unerfüllte Bedürfnisse vorangehen.
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Aggressions-Acht nach Dirk Schöwe |
Ziel ist es nach SAM, bei sich selbst und bei anderen Personen zu erkennen, an welcher Stelle der "Acht" wir oder andere uns bzw. sich in einer Krisensituation befinden - und zu versuchen, die kritische Hemmschwelle in der Mitte zwischen den beiden Aggressions-Kreisen nicht zu überschreiten. Andererseits ist es ggf. möglich, durch Bewusstmachen des Modells auch aus dem kritischen Kreis (auf der Grafik in rot dargestellt) wieder heraus zu kommen oder unser Gegenüber dort herauszuführen - wenn es möglich ist, die eigenen unter der Wut liegenden Bedürfnisse oder die des Gegenübers zu sehen und zumindest ein stückweit anzuerkennen. Mit diesem Bild lässt sich sehr gut in verschiedenen Kontexten arbeiten - wegen der Anschaulichkeit des Modells sogar - wie schon oben angedeutet - bereits mit Kindern.
Ein Ziel, mit gewalttätigem Verhalten umzugehen könnte bei der Arbeit mit der "Acht" sein, Aggressionen kontrolliert auszuagieren - z. B. durch das Schlagen gegen Schlagkissen, statt gegen andere Gegenstände oder gegen Personen. Dies kann ggf. für eine kurze Entspannung sorgen und wie eine Art "Aggressions-Blitzableiter" wirken. Es sollte aber nicht ausschließlich beim Ausagieren bleiben - denn wenn die unerfüllten Wünsche und Bedürnisse unter der Wut nicht erkannt werden, können Wut und Aggression immer wieder zu Gewalt führen.
Aus psychotraumatologischer Sicht ist hier z. B. das Modell von Sabine Lehmann (FifaP) hilfreich: Sabine entwickelte das Modell "vom Fühlhirn und vom Denkhirn" - auch dies ist vor allem bereits bei der Arbeit mit Kindern sehr hilfreich, da schon Kinder im Vorschulalter hier Methoden erlernen, aus dem diffusen Emotionsstrudel, der die akute Gewaltsituation auslösen kann, herauszukommen: Durch ein Stoppen der eskalierten Situation ist es möglich, kurz innezuhalten und der Ursache der aktuellen Wut auf den Grund zu gehen. Wenn dies regelmäßig praktiziert wird, können auf kognitiver Ebene Strategien entwickelt werden, um künftig mit Wut und Aggressionen umzugehen, ohne dass die Hemmschwelle überschritten und Gewalt ausgeübt wird.
Wer sich mit Selbstverteidigung, Eigenschutz oder Konfliktkommunikation beschäftigt, sollte meiner Meinung nach eine gewisse Vorstellung des Themas Trauma haben. Zum einen weil ein Großteil der Menschen, die Selbstverteidigung erlernen wollen, bereits in der Vergangenheit Gewalt erfahren haben und nun lernen wollen, sich vor neuer Gewalt zu schützen. Es muss daher damit gerechnet werden, dass Menschen im Training getriggert oder gar retraumatisiert werden. Dies erfordert einerseits eine besondere Sensibilität hinsichtlich der Übungen und auf der anderen Seite sollten wir wissen, wie wir z. B. mit einer/m dissoziierten Teilnehmer/in im Training umgehen können. Auch die Absicht, mit der Personen Selbstverteidigung lernen möchten, kann hellhörig machen: Menschen, die bereits im Unterricht durchblicken lassen, dass sie von dem Wunsch nach Rache oder Heimzahlung angetrieben werden, sollten wir möglichst nicht konventionell unterrichten.
Ich selber habe mich erstmals im Zusammenhang mit dem Studiengang "Geprüfte/r Trainer*in für Selbstverteidigung" bei Armin Hutter an der ILS-Akademie intensiver mit dem Thema Trauma beschäftigt. Hutter hatte das Thema im Zusammenhang mit den Fight-, Flight-, Freeze-Reaktionen im Rahmen der Selbstverteidigung tiefer beleuchtet. Nachdem mein Interesse daran, das Thema tiefer zu erforschen, geweckt war, absolvierte ich zunächst im Anschluss an den Studiengang eine Ausbildung zur Traumapädagogin/Traumafachberaterin (FifaP). Anschließend erlernte ich die EMDR-Technik zur Traumaverarbeitung und begann an der UTA-Akademie in Köln eine zweijährige Ausbildung in der NARM Traumatherapie. NARM beleuchtet Entwicklungstraumata, die - je nachdem, in welchem Alter die stärksten Belastungen stattfanden - verschiedene Ausprägungen annehmen können. Nach der Betrachtungsweise von NARM besteht ein ganz elementarer Zusammenhang zwischen Wut/Aggressionen und einem tief liegenden Schmerz, einer ganz "alten" und tief liegenden Trauer. Ob Erlebtes hier ins Gewicht fällt, um uns zu prägen, dauerhaft zu belasten und "Glaubenssätze" in uns zu verankern, ist ganz individuell. Ganz unbestritten kann erlebte oder beobachtete familiäre Gewalt, können Missbrauch und Vernachlässigung hier die Saat für Entwicklungstraumata setzen. Manchmal reichen aber auch besondere Lebensumstände (z. B. schwere körperliche oder psychische Krankheit eines Elternteils oder eines anderen Familienmitglieds, ein besonders rigider Erziehungsstil oder der Wunsch der Eltern, das Kind könne stellvertretend für Vater oder Mutter eine Sportskanone, eine Eislaufprinzessin oder ein zweiter Mozart werden) aus, um in unserem Alltag als Erwachsene einen Widerhall zu finden und uns vielleicht ein Leben lang zu belasten. Da wir den Ursprung der Belastungen oft im Unterbewusstsein versteckt haben oder die Erlebnisse zwar noch abrufen - den Zusammenhang zu unseren aktuellen emotionalen Disbalancen aber oft nicht erkennen, können die alten Wunden und Schmerzen im Alltag zum Gefühl unerfüllter Bedürfnisse werden und den Verlauf der Aggressions-Acht in Gang setzen.
Durch das NARM-Coaching können alte Wunden, versteckter Schmerz, verdeckte Trauer angesehen und aufkommende Wut gehalten werden. Sie muss dann nicht mehr ausagiert werden. Es kann gelingen, die Aggressionen im "grünen" Bereich der Aggressions-Acht zu belassen und frühzeitig aufzulösen. Dies ist meiner Meinung nach ein wichtiger Bestandteil effektiven Eigenschutzes, da durch den NARM-Ansatz die Möglichkeit, sich deeskalierend zu verhalten und in Diskussionen und Auseinandersetzungen nicht auf die "Status-Wippe" zu springen, deutlich verbessert wird.
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